Medizin oder Business?

Die Gesundheitsreform sieht eine Gesamtbudgetierung der öffentlichen Gesundheitsausgaben vor sowie eine Deckelung des niedergelassenen und des Spitalsbereiches. Finanzziele und Bürokratie werden zu beherrschenden Größen im Gesundheitssystem. Prof. Dr. med. Giovanni Maio, Lehrstuhl für Medizinethik, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin Freiburg, beschreibt die möglichen Auswirkungen auf das ärztliche Handeln: „Der Arztberuf ist seit jeher etwas Besonderes, weil er mit dem wichtigsten Gut zu hat, das ein Mensch überhaupt besitzt, nämlich Leib und Leben. Arztsein ist auch nicht nur ein Beruf, sondern eine Profession. Profession kommt vom Wort versprechen, geloben. Der Arzt als Professioneller bekennt sich allein mit seiner Bezeichnung Arzt dazu, sein Wissen und Können nur im Interesse des Hilfsbedürftigen einzusetzen.“ Dieses Vertrauensverhältnis könnte durch die zunehmende Ökonomisierung des Arztberufes ins Wanken kommen: „Die Grundlage für dieses Vertrauen wird durch die gegenwärtige Entwicklung der modernen Medizin immer mehr in Frage gestellt, weil sie durch das übermächtige ökonomische Denken komplett überformt wird.“

Von der ärztlichen Profession zum profanen Leistungserbringer

Maio: „Wir erleben heute eine politisch gewollte Deprofessionalisierung und damit Entwertung des Arztberufs, weil ein Arztberuf, der sich auf seinen Professionsstatus beruft und damit eine Freiheit im Denken und Behandeln reklamiert, eben nicht mehr so leicht zu managen wäre. Eine solche Freiheit würde möglicherweise die Effizienz gefährden und den ganzen Betrieb aufhalten. Daher soll politisch gewollt der Arztberuf kleingeredet und auf die gleiche Stufe gestellt werden wie Dienstleistungsbereiche in der Industrie. Aber ärztliche Hilfe ist keine bloße Dienstleistung. Sie ist ein Dienst am Menschen und damit die Zusicherung der Sorge für den anderen.“ Die Zusicherung sei unverzichtbar, weil der Arzt es eben nicht mit einem souveränen Kunden zu tun hat, sondern mit einem angewiesenen Patienten, der einfach Hilfe braucht. „Und in dieser seiner Angewiesenheit ist der Patient tendenziell in einer Position der Schwäche, die es erforderlich macht, dass er auf einen Helfer trifft, der in seinen Entscheidungen nicht medizinfremden Vorgaben unterworfen ist.“

Vom Primat des Helfens zum Primat der Rentabilität

Laut Maio sei es „verstörend, wenn der Patient argwöhnen muss, dass sein Arzt nicht das dem Patienten Dienliche empfiehlt, sondern das den Bilanzen Dienliche. Keine Gesellschaft kann es sich leisten, die kranken Menschen in eine Situation schlittern zu lassen, in der sie dringend auf ärztliche Hilfe angewiesen und dann womöglich in ihrer Angewiesenheit von den Ärzten fehlgeleitet werden mit ärztlichen Ratschlägen, die keinem ärztlichen Selbstverständnis, sondern ökonomischem Kalkül folgen. Daher muss die Ärzteschaft neu verdeutlichen, dass sie Prinzipien hat und diese Prinzipien als unumstößlich ansieht und dass alle fahrlässigen Gefährdungen dieser Prinzipien politisch unverantwortlich sind.“

Vom Dienst am Menschen zur personennahen Dienstleistung

Unter dem ökonomisch bedingten Zeitdiktat würde eine Kultur des Heilens verkümmern, weil die Behandlung von kranken Menschen immer mehr als messbare Handlung begriffen werde. Maio: „Das ökonomisierte System suggeriert in problematischer Weise, dass mit der Applikation des Richtigen die Behandlung erschöpft sei. Die ärztliche Tätigkeit soll eine rein leistungsbezogene sein. Im Grunde möchte man im ‚modernen‘ Gesundheitssystem keine wirklichen Ärzte mehr, sondern eher Manager, die gekonnt die vorgegebenen Behandlungspakete zusammenbauen. Man möchte ein System, in dem alle Tätigkeiten organisatorisch zerlegt werden. Alles, alle Untersuchungs- und Behandlungsabläufe werden zerstückelt, weil man nur so überall effizienter werden kann. Auf diese Weise aber kann die ureigene ärztliche Qualifikation kaum noch richtig zur Geltung kommen. Das Proprium des Ärztlichen, dass der Arzt ganzheitlich denkt und den ganzen Menschen sieht und nicht nur ein Organ, den ganzen Menschen und nicht nur eine ICD-Diagnose, dieses eigentlich Ärztliche, das ist nicht mehr gefragt. Die Ökonomisierung führt sukzessive zu einer Art Scheuklappenmedizin, weil die Ärzte unter dem Diktat der Ökonomie und ihrer Geschäftsführer verlernen, ganzheitlich zu denken“.
Diese Herabsetzung gerade des Ärztlichen zeige sich auch daran, dass mit der Ökonomie eine immense Dokumentationswut ausgebrochen sei. Es gebe kaum mehr fachliche Ermessensspielräume für den Arzt. Immer weniger werde es der genuin ärztlichen Erfahrung überlassen, was zu entscheiden sei. „Stattdessen wird dem Arzt im Detail vorgeschrieben, was er zu tun hat. Dieses Handeln nach Vorgaben, fast schon nach Gebrauchsanweisungen, hat eigentlich nichts professionell Ärztliches mehr an sich.“

Aushöhlung des sozialen Charakters der Medizin

Das Gravierendste dieser ökonomischen Überformung des Ärztlichen sei die Tatsache, dass eine fürsorgliche Praxis zur marktförmigen Dienstleistung transformiert werde. Maio: „Wir erleben heute eine totale Bindung an Programme und Vorgaben, wir erleben nicht weniger als eine komplette Verrechtlichung der ärztlichen Hilfe, die dann eben keine Hilfe mehr zu sein hat, sondern die Abgabe eines qualitätsgesicherten Produktes. Die Orientierung am guten Outcome, am messbaren Outcome ist eine notwendige Bedingung für eine gute Medizin, aber sie ist eben nicht hinreichend. Denn die Begegnung von Arzt und Patient bleibt unweigerlich auf ein Vertrauenkönnen angewiesen, weil es hier oft um existenzielle Erfahrungen geht, die mehr erfordern.“
Das Gefährliche der Ökonomisierung liege darin, dass die Ökonomie die Charaktere, die Grundeinstellungen verändert. In einem ökonomisierten System gebe es keine Helfer mehr, sondern Dienstleistungsanbieter, in einem ökonomisierten System gebe es keine Sorge für den Anderen mehr, sondern „es gibt die Lieferung einer bestellten und vertraglich vereinbarten Gesundheitsware. Die Ökonomie bringt also nichts anderes zuwege als die Ablösung des Vertrauensverhältnisses durch ein Vertragsverhältnis. Das ist das Geschäftsmodell, das stillschweigend eingeführt wird.“
Der größte Schaden, den das rein ökonomische Denken anrichtet, ist letzten Endes die emotionale Distanzierung vom Patienten, ist nichts anderes als die Einführung eines perfekten Services, aber ohne Mitimplementierung des Wesentlichen, nämlich der persönlichen Anteilnahme am Schicksal des kranken Menschen. „Die Gleichzeitigkeit von Hilfe und Kalkül ist insofern eine ständige Gefährdung der Grundfesten der Medizin als Disziplin der Hilfe, als Disziplin der Sorge und damit als eine Gefährdung des unabdingbaren Vertrauensverhältnisses. Ein guter Arzt wird derjenige sein, bei dem man das Gefühl hat, dass er mit der größten Selbstverständlichkeit das Gute tut, ohne erst zu kalkulieren, ohne Vorbehalt.“

Gefahr der Entsolidarisierung von den Schwächsten

Die Konsequenz einer ökonomisierten Medizin besteht laut Maio darin, dass nicht mehr allen geholfen wird, sondern nur noch dort, wo es sich rentiert. „Die Kunst einer ökonomisierten Medizin besteht nicht mehr allein darin, gute Behandlungen vorzunehmen, sondern die eigentliche Kunst ist die, eine gute Patientenselektion zu erreichen: Patienten zu akquirieren, die eine gute Bilanz versprechen, Patienten, die für eine gute Statistik taugen, Patienten, denen man womöglich noch Zusatzleistungen anbieten kann. Am Ende ist es dann eben so, dass die Medizin ökonomisch motiviert dazu tendieren wird, genau die Patienten von vornherein aus ihrem Fokus zu verbannen, die vielleicht der ärztlichen Betreuung am meisten bedürften.“
Hier zeigt sich ein Grundzug ökonomischen Denkens; denn für den Markt lohnt sich die Investition eben nur dort, wo man mit der Investition auch viel verrichten kann. Der Markt zieht die Versorgung derjenigen Patienten vor, die gut lösbare Probleme haben. Diejenigen, die in weniger gut lösbaren Problemlagen stecken, werden als zu risikoreich eingestuft und daher eher gemieden und somit weiter marginalisiert. „Das Kriterium der Rentabilität ersetzt den genuin sozialen Gedanken.“

Statistische Behandlung versus individuelle Betreuung

OA Dr. Michael Peintinger, Lehrbeauftragter für Medizinethik der MUW: „Prinzipiell hat jeder Mensch eine sozialethische Verpflichtung, mit Ressourcen sparsam umzugehen. Wenn aber für medizinische Handlungen die Ökonomie nicht mehr nur orientierend, sondern vorherrschend ist, dann wird das medizinische Handeln als Zweck zur Ressourceneinsparung genommen, und die Perspektive wird verschoben.
Menschen nach Standards zu behandeln kann der Individualität eventuell nicht gerecht werden, da ja im Einzelfall oft nachjustiert werden muss –, und dieses Konzept lässt sich für jene, die gewohnt sind, nur mit Zahlen umzugehen, unheimlich schwer kommunizieren.“
Wenn der Fokus auf messbare Zahlen und Daten festgelegt werde, dann würden alle anderen Dinge logischerweise geringer gewichtet. „Gerade in Zeiten zunehmender chronischer Erkrankungen, die ja wesentlich mehr Zeitaufwand als strukturell messbaren Aufwand mit sich bringen, wird Zeit einfach wegrationalisiert – und das, obwohl die Compliance auch von der guten Arzt-Patienten-Beziehung abhängt.“ Auch der Wert des Gespräches werde verkannt. „Insgesamt entfernen wir uns sehr weit vom Heilkunstphänomen hin zu einem Produktionsprozess.“
Anlässlich der Auseinandersetzungen im Rahmen der Gesundheitsreform vermisst Peintinger eine Diskursethik: „Beide Seiten – die Ökonomen und die Mediziner – sollten über Sachwissen des jeweils anderen Parts verfügen, um darauf eine Wertorientierung aufzubauen. Das ist keine Sache, die man in einem kurzen Zeitraum erreicht, und es ist auch von beiden Seiten jahrelang gar nicht voll betrieben worden. Für das, was sich jetzt manifestiert, fehlen einige Jahre des gemeinsamen Diskurses. Die Ökonomen müssten besser um die medizinischen Sachzwänge Bescheid wissen – wie Entscheidungsprozesse laufen und wie schwer dies manchmal ist. Umgekehrt haben auch Ärzte zu wenig Wissen um das ökonomische Prozedere. Man müsste sozusagen – nach K.H. Wehkamp – ‚die Ökonomie medizinalisieren und die Medizin ökonomisieren‘. Dieses beiderseitige Wissen halte ich für unabdingbar. Was mich in den Diskussionen von beiden Seiten stört, ist, dass man eher die Rollenbilder der Diskutanten sieht und weniger die Inhalte. Nicht jedes Argument, das z.B. von der Ärztekammer gebracht wird, ist per se schon wahrscheinlich interessengedrängt. Nicht jedes Argument der Sozialversicherung ist schon ein Angriff. Wir benötigen eine Plattform, um Details auf Augenhöhe zu klären, denn wenn es zum Schluss nichts anderes gibt, als zu sagen, ‚ok wir verstehen es jetzt, aber wir sind trotzdem diejenigen, die das Geld verwalten und beschließen das daher‘, dann ist das kein ethischer Diskurs, sondern eine Good-Will-Gesprächsrunde.“

 

Ihre Meinung an:
h.noebauer(at)medmedia.at