Psychosen im Alter richtig zuordnen

Mit welcher Häufigkeit treten psychotische Störungen im Alter auf?

Prim. Dr. Jagsch: Die Halbjahresprävalenz psychotischer Störungen im Alter beträgt nach epidemiologischen Untersuchungen zwischen 16 und 23 %. Die Herausforderung besteht darin, bei älteren Menschen die Symptome den verschiedenen Syndromen und Störungen richtig zuzuordnen. Das erfordert eine genaue Abklärung und viel Erfahrung in der klinischen Praxis. Aufgrund der zahlreichen möglichen Differenzialdiagnosen ist neben einer ausführlichen Anamnese und einer Außenanamnese mit Partner und Familienangehörigen eine komplette somatische Abklärung mit Labor und zerebraler Bildgebung sowie eine detaillierte Erhebung der somatischen Vorerkrankungen und der verordneten Medikamente erforderlich.

Welche psychotischen Symptome sind mit demenziellen Erkrankungen assoziiert?

Das ist abhängig vom Typ der Demenz. Bei Alzheimer-Demenz etwa zeigen sich bei 40–50 % der Patienten psychotische Symptome wie Verfolgungswahn und Halluzinationen. Patienten mit Lewy-Body-Demenz leiden zu 78 % unter Halluzinationen, zu 25 % unter Wahnsymptomen und zu 56 % unter Fehlidentifizierungen. Bei 60 % der älteren Patienten mit einer langjährigen Parkinson-Erkrankung und Demenzentwicklung werden psychotische Symptome angegeben, meist verursacht durch die Behandlung mit Dopaminagonisten oder mit hohen Dosen von Levodopa. Auch bei einer vaskulären Demenz treten bei etwa der Hälfte der Betroffenen psychotische Symptome auf.

Wie sieht das bei affektiven Störungen wie schweren Depressionen oder bipolaren Erkrankungen aus?

Die psychotischen Phänomene, die im Zusammenhang mit einer affektiven Störung auftreten, können stimmungskongruent oder auch stimmungsinkongruent sein. Stimmungskongruente psychotische Symptome sind Wahnphänomene oder Halluzinationen, die zu den typischen depressiven Inhalten wie beispielsweise Schuldgefühle, Nihilismus oder Verschuldigungs- oder Verarmungsideen passen. Zu den stimmungsinkongruenten psychotischen Symptomen zählen etwa Verfolgungswahn, der nicht direkt auf die depressiven Themen zurückzuführen ist, oder Gedankeneingebungen. Ein bipolarer Patient mit psychotischer Depression ist vergleichbar mit einem Patienten mit unipolarer Depression. Eine manische oder hypomane Episode im Alter ist meist von Größenwahn begleitet, wie etwa unermesslich reich zu sein oder übernatürliche Kräfte zu haben. Die Erstmanifestation einer bipolaren Störung im Alter ist sehr selten, oft liegt eine subsyndromale affektive Störung vor, die im Alter stärkere Symptome zeigt, oder eine bipolare Störung wurde bisher nicht diagnostiziert.

Inwieweit hat das Alter Einfluss auf den Verlauf einer Schizophrenie?

Der Verlauf einer Erkrankung des schizophrenen Formenkreises kann sehr unterschiedlich sein. Es gibt Patienten, die bis ins hohe Alter vorwiegend Positivsymptome zeigen und von erstaunlich guter somatischer Gesundheit sind. Insgesamt werden bei Patienten mit vordiagnostizierter Schizophrenie im Alter jedoch häufig eine Reduktion der Positivsymptomatik und eine Verstärkung der Negativsymptomatik beobachtet. Außerdem treten in diesem Lebensabschnitt häufiger depressive Symptome auf, und auch die kognitiven Einschränkungen können aufgrund komorbider demenzieller Erkrankungen zunehmen.

Besonders bei älteren Patienten kann es auch zu organisch bedingten psychotischen Störungen kommen. Wie lassen sich diese erkennen?

Eine akute organische Psychose tritt plötzlich auf und geht mit fluktuierenden Störungen von Kognition, Psychomotorik und Affekt einher. Dabei sind Formen mit und ohne Bewusstseinsveränderung möglich. Das Delir ist eine Form der akuten organischen Psychose. Die Wahrscheinlichkeit, ein Delir zu entwickeln, nimmt mit dem Alter deutlich zu, noch gesteigert durch das Vorhandensein einer kognitiven Beeinträchtigung. Es entsteht im Rahmen akuter somatischer Erkrankungen, hervorgerufen durch Wirkungen oder Nebenwirkungen von Pharmaka und/oder durch störende Umgebungsfaktoren. Chronische organische Psychosen entstehen als Folge chronischer Hirnerkrankungen, die durch Substanzen oder Beteiligung bei somatischen Erkrankungen bedingt sind. Symptomatisch zeigt sich zusätzlich eine Beeinträchtigung des Gedächtnisses, eine Einschränkung kognitiver Fähigkeiten sowie eine Veränderung der Psychomotorik, des Antriebes, des Affektes und der sozialen Beziehungsgestaltung.

Was ist bei der medikamentösen Behandlung von älteren Patienten zu beachten?

Der Einsatz von Antipsychotika bildet die Grundlage für die Behandlung, jedoch ist im Alter auf höhere Nebenwirkungsraten und Interaktionen mit anderen Medikamenten zu achten. Prinzipiell sollte die Zieldosis der Antipsychotika im Alter die Hälfte der Standarddosis junger Patienten ausmachen, bei multimorbiden Patienten im höheren Alter reichen deutlich niedrigere Dosierungen häufig aus. Die Wahl des geeigneten Antipsychotikums orientiert sich unter anderem am Nebenwirkungsprofil. Beispielsweise stellen bei Patienten mit komorbidem Diabetes mellitus Olanzapin oder Clozapin nicht die Substanzen erster Wahl dar, da diese Antipsychotika per se den Glukosestoffwechsel negativ beeinflussen können. Bei Patienten mit bekanntem Parkinson-Syndrom wirkt sich der Einsatz von Haloperidol oder Risperidon aufgrund des relativ starken Dopaminantagonismus negativ auf die Bewegungsstörung aus. Als relevante Nebenwirkungen von Antipsychotika im Alter werden kardiovaskuläre, sedierende, anticholinerge und metabolische Störungen sowie Bewegungsstörungen wie Akathisie, Parkinsonoid und tardive Dyskinesie beobachtet. Des Weiteren können Hyperprolaktinämie, Agranulozytose, das maligne neuroleptische Syndrom und eine orthostatische Hypotonie mit Stürzen und Hüftfrakturen auftreten.

Sie beschäftigen sich nun schon seit vielen Jahren mit der Alterspsychiatrie – was sind Ihrer Meinung nach die bedeutendsten Entwicklungen der vergangenen Jahre, und was dürfen wir in Zukunft erwarten?

Nachdem die Forschung der vergangenen Jahre zur Ursache der Alzheimer-Krankheit leider keinen Durchbruch gebracht hat, liegt nun ein neuer Fokus auf der Rolle der Entzündungsprozesse bei der Entstehung der Demenzerkrankung. Erfreulich ist, dass in der Versorgung die Wahrnehmung, die Diagnose und die Prävention des Delirs in den Mittelpunkt gerückt ist. Auch Depressionen und Angsterkrankungen im Alter werden vermehrt ernst genommen, und die Beachtung der Interaktionen und Wechselwirkungen von Psychopharmaka im Alter ist selbstverständlich geworden. In Zukunft sollen maßgeschneiderte Psychopharmaka für ältere Menschen die Behandlungssicherheit erhöhen. Auch wird es vermehrt „demenzsensible“ Krankenhäuser geben, die den besonderen Bedürfnissen von demenzerkrankten Menschen Rechnung tragen. Weiters werden vermehrt technische Unterstützungen für den Alltag und für therapeutische Interventionen – wie Tablets, virtuelle Brillen und Roboter – implementiert werden.

Vielen Dank für das Gespräch!