Seltene Erkrankungen – der Weg zu einer besseren Versorgung

Dr. Jan Oliver Huber, Leiter des Gesundheitspolitischen Forums, erklärte in seiner Eröffnungsrede, dass Orphan Diseases lange die „Waisenkinder“ in der Medizin gewesen seien. „Seit dem Jahr 2000 sind die Anträge für Therapien bei seltenen Erkrankungen zwar gestiegen – nicht zuletzt aufgrund einer EU-Verordnung, welche die Entwicklung von Orphan Drugs unterstützt –, doch von fast 4.000 Anträgen in den letzten 22 Jahren haben 2.500 zwar den Status ,Orphan Drug‘ von der EMA zuerkannt bekommen, aber letztendlich nur 190 Therapien eine Zulassung erhalten. Dies zeigt das hohe Risiko bei der Forschung in diesem Bereich“, so Huber.

Frühere Diagnose notwendig

Ao. Univ.-Prof.in Dr.in Daniela Karall, Stellvertretende Klinikdirektorin der Klinik für Pädiatrie I in Innsbruck sowie Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde, erklärte, dass man von einer seltenen Erkrankung spreche, wenn nicht mehr als 1 von 2.000 Personen betroffen sind. „Doch es gibt zwischen 6.000–8.000 seltene Erkrankungen, d. h. 6–8 % der Bevölkerung sind von einer dieser Krankheiten betroffen. Das sind in Summe rund 450.000 Personen – also gar nicht so wenige. Zudem sind seltene Erkrankungen großteils schwerwiegende Erkrankungen. Ich empfehle immer, bei Patient:innen mit chronischen, ungewöhnlichen Symptomen bzw. Symptomkombinationen unklarer Ursache an die Möglichkeit einer seltenen Erkrankung zu denken – vor allem, wenn mehrere Familienmitglieder betroffen sind“, betonte Karall. Dieses Bewusstsein für die Möglichkeit einer seltenen Erkrankung hält sie für sehr wichtig, um frühzeitiger zu einer Diagnose zu kommen.

Expertise in Zentren zusammenführen

Ein weiterer wichtiger Schritt besteht für Karall in dem Aufbau von tragfähigen Netzwerken, denn die Dauer bis zur Diagnose bei seltenen Erkrankungen sei derzeit zu lang. Dafür setzt sich auch der im Dezember 2011 gegründete Verein „Forum Seltene Krankheiten“ ein, dessen Obfrau Karall ist. Der Verein ist ein Zusammenschluss von Ärzt:innen und Mitgliedern anderer Berufsgruppen, die Patient:innen mit seltenen Erkrankungen betreuen. „Es muss unser Ziel sein, dass Patient:innen so wohnortnahe wie möglich versorgt werden und die behandelnden Ärzt:innen gleichzeitig mit Zentren für die betreffende seltene Erkrankung vernetzt und so mit aktuellen Informationen versorgt sind“, so Karall. Daher fordert das „Forum Seltene Krankheiten“ den Aufbau enger Kooperationsstrukturen, eine Stärkung der örtlichen Zusammenarbeit, eine Intensivierung der überregionalen medizinischen Vernetzung, die Förderung eines breiteren Wissens und Verständnisses in der Öffentlichkeit sowie die Unterstützung von Forschung und Lehre in Bezug auf seltene Erkrankungen. Auch FH-Prof.in Dr.in Andrea Kdolsky, MBA, Departmentleiterin Gesundheit, FH St. Pölten, sprach sich klar für die Zusammenführung der Expertise in Zentren aus: „Es ist nicht zielführend, überall alles behandeln zu wollen. Denn je mehr Fälle ein Arzt/eine Ärztin sieht, umso besser wird er/sie in der Beurteilung und Behandlung.“

Mitsprache der Betroffenen

Kdolsky betonte weiters, dass die Betreuung von Patient:innen mit seltenen Erkrankungen über die medizinische Behandlung hinausgehe: „Ich weiß aus vielen Gesprächen mit Betroffenen und Angehörigen, dass eine seltene Erkrankung zu vielen Sorgen und Ängsten in den Familien führt. Derzeit werden die Angehörigen mit diesen Nöten völlig allein gelassen.“ Es sei wichtig, dass die Betroffenen gehört werden. Daher betonte Kdolsky, dass sich alle Patientenorganisationen und Selbsthilfegruppen einem großen strategischen Ziel widmen sollten: Mitsprache! „Dafür braucht es aber finanzielle Unterstützung. Hier sollten Patientenorganisationen nicht auf Almosen angewiesen sein, wie dies in Österreich derzeit der Fall ist, sondern Anspruch auf einen Teil des Budgets des Gesundheitsministeriums haben“, forderte Kdolsky in Richtung Politik.

Aufruf zum Handeln!

Den hohen Stellenwert von Patientenorganisationen betonte auch Eva Otter, Vizepräsidentin bei PH Austria – Initiative Lungenhochdruck und Präsidentin bei PHA Europe, der europäischen Dachorganisation für Patient:innen mit pulmonaler Hypertension (PH) in Europa: „Wir brauchen Spezialist:in-nen, Ärzt:innen und auch die Industrie, um Medikamente zu bekommen und dadurch Lebensqualität zu erhalten. Aber wir brauchen auch die Patientenorganisationen, welche die Betroffenen im täglichen Leben unterstützen!“

Sie fasste die Wünsche der Betroffenen wie folgt zusammen:

  • gutes Arzt/Ärztin-Patient:innen-Gespräch
  • übersichtliche und verständliche Informationen
  • gesicherte Medikamentenversorgung
  • Verständnis und Akzeptanz
  • Verbesserung der Lebensqualität
  • Mitspracherecht bei Therapien
  • selbstbestimmtes Leben

„Um dies zu erreichen, brauchen wir einen Call to Action, einen Aufruf zum Handeln, der auf folgenden Säulen ruhen muss: Zugang zu Therapien und Expertisezentren, klinische Forschung und Innovation, psychosozialer Support, Unterstützung von Patientenvertreter:innen, Förderung von Awareness und Screening“, betonte Otter.

Verbesserungsansätze in Planung

Auch Mag.a Elisabeth Weigand, MBA, Geschäftsführerin von Pro Rare Austria, dem bundesweiten Dachverband für seltene Erkrankungen und damit Dach für Patientenorganisationen, Selbsthilfegruppen und Einzelpersonen als Vertretung einer seltenen Erkrankung, ist davon überzeugt, dass die Einbindung von Betroffenen wichtig ist, um die Situation zu verbessern. Was in Österreich bereits gut funktioniere, sei das Neugeborenen-Screening auf 30 seltene Erkrankungen, dennoch sei eine Ausweitung der Frühdiagnostik wünschenswert, um frühzeitig eine Diagnose zu erhalten und somit eine entsprechende Versorgung beginnen zu können, so Weigand. Dass derzeit nur ein Bruchteil der Betroffenen in den bereits erwähnten Expertise-Zentren versorgt werde, gilt es laut Weigand dringend zu ändern.

Sie empfiehlt allen Ärzt:in-nen, bei dem Verdacht auf eine seltene Erkrankung, www.orpha.net zu nutzen – eine Datenbank, die Informationen zu seltenen Krankheiten und Arzneimitteln (Orphan Drugs) enthält. Zudem seien Referenznetzwerke von großer Bedeutung. Derzeit gibt es 24 Europäische Referenznetzwerke (ERNs), über die Wissen geteilt werden kann und die an Österreichs Zentren angebunden sind. „Aktuell wird über ein ,Undiagnosed Disease Program‘ in Österreich verhandelt, und wir hoffen, dass so bald wie möglich eine Pilotphase dieses Projekts starten kann (frühestens 2024). Auch ein nationales Referenznetzwerk, das die ERNs spiegeln sollte, wird im Rahmen einer European Joint Action erarbeitet“, erklärt Weigand. Darüber hinaus sieht sie weitere Bereiche, in denen es in Österreich Verbesserungspotenzial gibt, z. B. strukturierte Patientenpfade, Diagnose-Lotsen (z. B. Community Nurses), Expertenzentren für alle seltenen Erkrankungen, Sicherstellung der Ressourcen (auch für Forschung), Data Sharing etc. Auch die finanzielle Unterstützung von Betroffenen und ihren Angehörigen dürfe gerade jetzt, in einer wirtschaftlich schwierigen Phase, nicht aus den Augen verloren werden: „Eine unserer Forderungen muss die Sicherstellung von Ressourcen für Expertisezentren und Patientenorganisationen sein. Zudem brauchen die Betroffenen selbst umfassende Beratung hinsichtlich möglicher Erstattung und finanzieller Unterstützung, damit sie ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen können“, so Weigand abschließend.