„Verflucht viel Luft nach oben“

Hautkrebs über eine App erkennen oder per Video-Call mit der Hausärztin bzw. dem Hausarzt sprechen – digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) machen in der Regelversorgung schon heute vieles ohne volle Wartezimmer und für Patient:innen von zuhause aus möglich. In Deutschland können bereits von Ärzt:innen webbasierte Programme und Apps für Smartphones und Tablets verschrieben werden. Basis dafür ist das seit November 2019 bestehende Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG), das durch Digitalisierung und Innovation eine bessere Gesundheitsversorgung anstrebt. Dadurch können DiGA – vorausgesetzt, das deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat sie geprüft und freigegeben – verordnet werden. In Österreich gibt es kein solches Gesetz. Unternehmen und Start-ups finden mit ihren Anwendungen nur schwer den Weg ins System, in den Ordinationen scheitert es oft schon an fehlenden Lesegeräten für die e-card.

@ Glaser/ÖVP Wien

„Digitale Anwendungen sind und müssen Aufgabe der Sozialversicherungen sein.“

Dr. Alexander Biach

Standortanwalt Wien, Vizedirektor Wirtschaftskammer Wien

 

Daten als Rohstoff

Höchste Zeit, etwas zu ändern, erklärte der Wiener Standortanwalt Alexander Biach bei einer Diskussionsveranstaltung in der Wiener Wirtschaftskammer zum Thema digitale Gesundheitsanwendung und Gesundheitsdaten. Potenzial gäbe es in Österreich allemal: Beim digitalen Impfpass hat man 166 Millionen Abrufe seit dessen Einführung registriert, das ELGA-Portal verzeichnet 365.000 Abrufe pro Monat – das sei ausbaufähig, aber es zeigt, dass es bereits viele Daten gibt. Wenn man diese pseudonymisiert und kombiniert, könne man viel „menschliches Leid lindern“. Man müsse den „Rohstoff Daten“ für die Gesundheit nutzen – der Wiener Gesundheitsverbund (WiGev) sowie die Anwendung „Alles gurgelt“ machen es vor, das sei aber noch nicht genug. „Wir lassen viel Geld liegen“, sagt Biach und verweist auf eine von der Wirtschaftskammer Wien in Auftrag gegebene Studie.

Kosten überschaubar

Seit es das Digitale-Versorgung-Gesetz gibt, zahlen in Deutschland die Kassen für geprüfte und freigegebene DiGA. Natalie Gladkov vom Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) Berlin verteidigt die Kassenfinanzierung. Die Angst vor „explodierenden Kosten“ hätte sich in Deutschland nicht bewahrheitet. Die Kosten waren 2021 im Promillebereich. Sie verstehe das Zögern der Kassen in Österreich, um erfolgreich zu sein, brauche es aber eine gute Zusammenarbeit – auch bei der Sammlung von Gesundheitsdaten.
Der dritte Vizepräsident der Ärztekammer für Wien, Dr. Stefan Konrad, ist zuversichtlich. Vor allem die junge Generation sei für eine Digitalisierung offen, gerade bei der Nachsorge wären Apps und tragbare Geräte „ein Benefit“. Auf die Ärzt:innen, die noch skeptischer wären, müsse man aktiv zugehen, um ihnen DiGA schmackhaft zu machen. Die Ärztekammer werde sich auf jeden Fall nicht gegen digitale Anwendungen und Digitalisierung wehren, verspricht Konrad.

„Aufgabe für Sozialversicherung“

Die Verantwortung für die Finanzierung von digitalen Gesundheitsanwendungen sieht Standortanwalt Biach bei den Sozialversicherungsträgern: „Digitale Anwendungen sind und müssen Aufgabe der Sozialversicherungen sein“, ist Biach überzeugt. Bernhard Wurzer, Generaldirektor der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK), betont den Willen der ÖGK, die Digitalisierung voranzutreiben. Bis 2030 wolle man der modernste Krankenversicherungsträger Europas sein. Als ÖGK sitze man auf einem „großen Datenschatz“, den man aber nicht nutzen könne. Er sieht außerdem das Problem darin, dass es für Unternehmen und Start-ups in Österreich derzeit sehr schwierig sei, ins System zu kommen. „Digitale Gesundheitsanwendungen sind und werden Teil der Gesundheitsversorgung sein“, meint Wurzer.

@ ÖGK/Gossow

„Digitale Gesundheitsanwendungen sind und werden Teil der Gesundheitsversorgung sein.“

Mag. Bernhard Wurzer

Generaldirektor Österreichische Gesundheitskasse

 

„Noch viel Luft nach oben“

Ein Dämpfer kommt vom Wiener Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ): Für ein digitales Gesundheitssystem fehle es in Österreich derzeit ganz einfach noch am Fundament. „Wir sind nicht in der Lage, auf gleicher Basis zu arbeiten“, ärgert sich Hacker. Es sei „absurd“, dass hierzulande Gesundheitsdaten teilweise nicht einmal vom Labor ins Spital überliefert werden, befindet der Gesundheitsstadtrat. In Wien versuche man gerade die Klinik-strukturen zu modernisieren. Die Grundordnung der Spitäler wurde gerade festgelegt, es laufe ein „intensives Bauprogramm“ – Vorbild sei vor allem die Klinik Floridsdorf. Die Anwendung von Apps und Webprogrammen im Gesundheitswesen fände er super, es fehle aber ganz einfach an einer gleichen Ausgangslage. Hacker verweist dabei auf eine vor Kurzem veröffentliche Aussendung der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK), wonach von 10.000 Praxen von Wahlärzt:innen nur 460 eine e-card-Anbindung hätten. „Die Nutzung von ELGA, des e-Rezeptes, einer für Patient:innen transparenten Onlineabrechnung, bei der ersichtlich ist, welche Wahlarztleistung eine erstattbare Kassenleistung und welche eine reine Privatleistung (Homöopathie, Bioresonanz usw.) ist, muss für Wahlärzt:innen Standard werden“, forderte ÖGK-Obmann Andreas Huss in besagter Aussendung. Auch Hacker sieht Handlungsbedarf: „Bei der Digitalisierung im österreichischen Gesundheitswesen gibt es verflucht viel Luft nach oben“, sagt der Stadtrat und erwähnt in diesem Zusammenhang vor allem den niedergelassenen Bereich.
Bei einer Sache sind sich alle Diskussionsteilnehmer:innen einig: Das Wichtigste sei das Wohl der Patient:innen und Angehörigen. Der Wille der Stakeholder sei da, man glaube nicht, dass man in 20 Jahren noch einmal dieselbe Diskussion führen werde. Was es jetzt brauche, sei „politischer Mut“ und ein „Durchsetzen einheitlicher Strukturen“, meint Hacker. Von den Menschen aus Medizintechnologie, Forschung und Wirtschaft fordert er, dass sie ihre Wünsche bei der Politik, Sozialversicherungen und der Ärztekammer konsequent einfordern.