Vielschichtiges Tabuthema

Was sind die gravierendsten Gender-Unterschiede beim ärztlichen Umgang mit sexuellen Störungen?
Prim.a Dr.in Heidemarie Abrahamian: Der wesentlichste Unterschied ist, dass beim Mann eine funktionierende Erektion direkt mit der Fortpflanzung zusammenhängt, während einer Frau mit Sexualproblemen der Geschlechtsverkehr und damit die Fortpflanzung nicht prinzipiell versagt bleiben. Generell scheinen Männer einem höheren Leidensdruck zu unterliegen, vielleicht auch, weil die funktionierende Sexualität mit der Geschlechtsidentität als Mann im evolutionären Zusammenhang direkter verbunden war als bei der Frau. So liegt der ärztliche Fokus seit Jahren auf der erektilen Dysfunktion beim Mann, während sich bei der Frau Sexualfunktionsstörungen deutlich weniger im Zentrum des Interesses befinden.
Bei der Frau ist die Sexualfunktion vielschichtig und auf mehreren Ebenen für Störungen vulnerabel: zunächst schon auf der ersten Stufe, beim Verlangen, Sex zu haben, und den damit verbundenen sexuellen Gedanken oder Vorstellungen. Auf der nächsten Ebene folgt die Erregung, mit Veränderungen im Genitalbereich – es kommt zur Lubrikation, und die Blutfülle nimmt zu, Labien und Klitoris schwellen an. In der weiteren natürlichen Abfolge kommt als Drittes die Orgasmus- und zuletzt die Entspannungsphase.

Welche Rolle spielen die Hormone bei Sexualstörungen der Frau?
Vor allem das Verlangen nach Sex und die Erregung sind sehr oft dann gestört, wenn Hormonprobleme vorhanden sind. Die ärztliche Aufmerksamkeit muss sich hier über die Sexualhormone Östrogene und Androgene per se hinaus auch auf die anderen Hormone richten, weil sowohl eine Schilddrüsenunter- oder -überfunktion als auch eine Nebennierenüber- und -unterfunktion, aber selbstverständlich auch Störungen in der hypophysären Hormonproduktion wie z. B. ein erhöhtes Prolaktin zu schwerwiegenden sexuellen Störungen führen können.
Mit Blick auf die Sexualhormone im engeren Sinn ist Sexualität eng mit dem Östrogen verbunden. So ist für die Abnahme des sexuellen Verlangens und der Erregungsfähigkeit in der Menopause mit hoher Wahrscheinlichkeit die Abnahme der Östrogenproduktion verantwortlich – damit nimmt u. a. auch die Lubrikation ab, die Schleimhaut wird vulnerabler, und es kommt auch oft zu Schmerzen.
Zum Androgenmangel, der immer wieder als Ursache einer verminderten Sexualfunktion diskutiert wurde, ist die wissenschaftliche Datenlage nicht konklusiv:
Die banale Beziehung, dass vermindertes Testosteron mit verminderter Sexualität gleichzusetzen ist, existiert real nicht. Zwar sind bei manchen Frauen, die ein Problem mit Lust und Erregung haben, die Androgen- bzw. Testosteronspiegel niedrig, aber bei manchen Frauen mit Werten im normalen bzw. hochnormalen Bereich besteht trotzdem eine Sexualfunktionsstörung. Auch die Abnahme der Lust in der Menopause, die in den Zeitbereich mit der größten Häufigkeit von weiblichen Sexualfunktionsstörungen fällt – Frauen im Alter zwischen 45 und 64 Jahren –, kann man nicht allein den Androgenen anlasten. Eine bis dato noch nicht klare Rolle spielen die Androgene auch therapeutisch. In einigen Studien haben Testosteronpflaster oder -gele zu einer Verbesserung der Sexualfunktion und zu einer erhöhten Frequenz von Sexualkontakten geführt, in anderen Studien hingegen nicht. Zu den Langzeitnebenwirkungen wissen wir jedenfalls viel zu wenig: Bei der Zufuhr von Testosteron wird es vermehrt in Östrogen umgewandelt – mit erhöhten Östrogenspiegeln in der Menopause ist ein erhöhtes Brustkrebsrisiko ein Thema, und Testosteron beeinflusst auch die Blutfette.

Welche internistischen Erkrankungen können bei der Frau ursächlich beteiligt sein? Was ist beim Abklärungsprozedere zu beachten?
Gynäkolog:innen – im optimalen Fall endokrinologisch versierte –, aber auch internistische Endokrinolog:innen sind auf jeden Fall primäre Ansprechpartner:innen bei Sexualproblemen. In einem Algorithmus des diagnostischen Prozederes gehört zunächst ein erweiterter Hormonstatus erhoben, also nicht nur die Sexualhormone, sondern auch die Schilddrüsenhormone und solche der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse mit potenziellem Einfluss auf die Sexualfunktion. Dann sollten schwerwiegende internistische Erkrankungen ausgeschlossen werden. Bluthochdruck per se kann als ätiologischer Faktor für Sexualfunktionsstörungen fungieren – jedoch nicht die antihypertensiven Medikamente, wie manche immer noch glauben. Eine große Studie unter Einschluss von Frauen hat gezeigt, dass wir unter keinem modernen Antihypertensivum – die neueren Betablocker eingeschlossen – eine negative Beeinflussung der Sexualfunktion sehen, im Gegenteil:
Unter ACE-Hemmern und Angiotensin-Rezeptor-Blockern kann es sogar zu einer Zunahme der Sexualkontakte kommen.
Dann natürlich Diabetes mellitus: Bei hohem Blutzucker trocknet nicht nur die Mundschleimhaut aus, sondern auch die Vaginalschleimhaut, wodurch der Geschlechtsverkehr sehr unangenehm bzw. schmerzhaft werden kann.
Im Kontext peripherer diabetischer Neuropathien kann es ebenfalls zu einer veränderten oder deutlich herabgesetzten Sensibilität im Genitalbereich kommen.
Adipositas kann zusätzlich mit einem negativen Körperimage auf der psychosozialen Ebene eine Störung aggravieren, weiters können Herz- und Nierenerkrankungen, Medikamente, hier v. a. die Psychopharmaka, und Suchtmittel wie Nikotin die weibliche Sexualität störend beeinflussen.

Männer können etwa bei erektiler Dysfunktion auf sehr wirksame „Lustpillen“ zurückgreifen. Wie steht es um die medikamentöse Therapiepalette bei weiblichen Sexualstörungen?
Bei der weiblichen Sexualfunktionsstörung spielen so viele Faktoren eine Rolle, dass Medikamente letztendlich immer nur als ein Baustein im therapeutischen Konzept wirksam sein können. Die medikamentöse Palette ist jedoch gerade bei Frauen noch immer sehr eingeschränkt.
Ich verwende mitunter Bupropion in Off-Label-Anwendung, ein Antidepressivum, mit dem man jedoch u. U. als Nebenwirkungen Tremor, Obstipation, Agitiertheit oder Mundtrockenheit in Kauf nehmen muss. Ebenfalls „off-label“ kann im Einzelfall Testosteron eingesetzt werden – wie erwähnt mit einem unsicheren Langzeit-Nebenwirkungsprofil. Das in den USA zugelassene Flibanserin ist aus meiner Sicht als „Lustpille“ hinter den Erwartungen zurückgeblieben:
Bis eine Wirkung eintritt, dauert es Wochen, und in ganz rezenten Untersuchungen kam es zu einer Zunahme von nur 0,5 Sexualkontakten pro Monat. Auch beträchtliche Nebenwirkungen wie Schwindel, Schläfrigkeit und Synkopen im Zusammenhang mit Alkoholgenuss stellen den Gesamtnutzen in Frage. Bremelanotid, ein Melanokortinrezeptor-Agonist, muss injiziert werden und weist auch ein nicht zu vernachlässigendes Nebenwirkungsspektrum auf. Damiana, ein OTC-Produkt, ist niederschwellig verfügbar.
Das erprobte Aphrodisiakum und Arzneimittel der traditionellen Medizin ist prä-, peri- und postmenopausal einsetzbar und hat 3 Wirkansätze: Hemmung der Aromatase, Durchblutungsförderung mit Füllung der Schwellkörper im Genitalbereich und eine anxiolytische Wirkung. Damiana weist ein sehr gutes Sicherhietsprofil auf – einen Versuch ist es jedenfalls wert.