Was ist mit der Medizin los?

Als scheidender Präsident einer wissenschaftlichen Gesellschaft und als Hausarzt am Ende seiner Berufslaufbahn irritiert mich die Entwicklung innerhalb der Medizin.
Ich erlebe in meinem Umfeld bei nicht wenigen Kolleg:innen einen Aktionismus gepaart mit einem Dilettantismus, der erschreckend ist, das zieht sich durch alle Fächer und nützt weder den Patient:innen noch dem System.

Was können mögliche Ursachen sein?

Durch die zunehmende Spezialisierung kommt es zu einem Verlust des Gesamtverständnisses, es werden nur noch Teilbereiche gesehen. Möglicherweise sind auch viele Kolleg:innen mit der Komplexität in manchen Situationen überfordert, und das führt zu einem einfachen, eindimensionalen Denken, das dem Menschen oft nicht gerecht wird.
Die Ausbildung wird dem auch nicht gerecht. Sie gestaltet sich sehr techniklastig, man klammert sich an Befunde und vergisst, den Menschen mit all seinen Symptomen und Bedürfnissen wahrzunehmen. Es wird zu wenig klinisch untersucht und zu wenig kommuniziert. Der berühmte, vor kurzem verstorbene Kardiologe Bernard Lown schreibt in seinem Buch „Die verlorene Kunst des Heilens“, dass die Anamnese und die körperliche Untersuchung 90 % der Diagnose ausmachen. Alle Laboruntersuchungen und bildgebenden Verfahren sind zum großen Teil Bestätigung einer klinischen Diagnose. Solche Betrachtungsweisen werden heute nicht mehr gelehrt und gelernt.
Ich erlebe, dass Gelenke – auch von Orthopäd:innen – nicht mehr untersucht werden, man verlässt sich ausschließlich auf MRT-Bilder und schaut lieber mit einer Arthroskopie in Gelenke hinein, als sie klinisch zu untersuchen. Ich habe einige Pes-anserinus-Tendinopathien erlebt, die nicht diagnostiziert wurden, aber es wurde eine Arthroskopie gemacht, ohne die Beschwerden zu lindern. Das kostet Geld, Ressourcen und schadet der Gesundheit. Mit einer einfachen, billigen Injektion wäre den Patient:innen besser geholfen worden.
Es gibt nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch unter der Ärzt:innenschaft eine zunehmende Wissenschaftsskepsis. Das gipfelt darin, dass nicht wenige Ärzt:innen in Österreich zu Zeiten der Coronapandemie die Impfung ablehnen sowie diese den Patient:innen sogar ausreden und dafür ohne wissenschaftliche Evidenz Ivermectin, Vitamine und Zink verschreiben.
Dazu kommt, dass sich Ärzt:innen anscheinend mehr in populärwissenschaftlichen Zeitschriften als in seriösen wissenschaftlichen Journalen informieren, und einige Ärzt:innenpraxen haben den Charakter eines Verkaufstandes für Nahrungsergänzungsmittel. Ein Beispiel ist das Vitamin D, die neue Wunderwaffe gegen fast „alles“. Es werden in großem Ausmaß Vitamin-D-Spiegel gemessen, ohne klare Evidenz für eine konkrete Aussage zu haben, und vielen, auch ganz jungen Menschen wird eine Vitamin-D-Substitution verordnet. Ich sah als junger Arzt alte Röntgenaufnahmen, die nach dem Krieg gemacht wurden, bei denen rachitische Veränderungen als Ausdruck eines echten Vitamin-D-Mangels zu sehen waren. Diese sehen wir nicht mehr.

Wie können wir das verändern?

Die wichtigste Maßnahme ist die Qualität der Ausbildung. Die ist in Österreich nach wie vor in einigen Bereichen sehr schlecht, junge Ärzt:innen bekommen in ihrer Ausbildung kein klares Ausbildungskonzept (obwohl es das gäbe!), Rasterzeugnisse werden ungefragt abgezeichnet und Jungärzt:innen lieber zu Routineaufgaben verdonnert, statt sie an die Hand zu nehmen und durch die Ausbildung zu leiten. Die Verantwortung und das Selbstbewusstsein der Jungärzt:innen für ihre ärztliche Tätigkeit gehört gestärkt. Wir verunsichern sie lieber, indem wir ihnen eintrichtern, alles zu untersuchen und alles abzeichnen zu lassen, um nicht vor dem Richter zu landen, statt ihnen den Umgang mit Unsicherheiten zu lehren und patient:innenorientierte, individuelle Entscheidungen zu treffen sowie mit den Patient:innen zu kommunizieren – mit gutem (Ge-)Wissen können wir auch unser Handeln gut begründen.
Die Fortbildung muss verbessert werden und noch mehr verpflichtend sein. Vor allem brauchen wir eine unabhängige Fortbildung, die meisten Fortbildungen werden immer noch von der Pharmaindustrie gesponsert. Ich habe keine Berührungsängste mit der Pharmaindustrie, sie ist uns ein wichtiger Partner. Allerdings unterliegt sie ganz klar wirtschaftlichen Interessen, das muss uns bewusst sein, und dementsprechend sollten wir auch den Umgang mit ihr gestalten.
Es braucht auch Rahmenbedingungen, die uns eine gute Medizin machen lassen, das heißt, wir müssen den Druck herausnehmen, Konzepte überlegen, wie wir aus der „Hamsterradmedizin“ herausfinden. Die Kultur des Patient:innengespräches und des Umganges mit den Patient:innen gehört verbessert, wir sind als Ärzt:innen nicht nur simple Dienstleistende und Erfüllungsgehilfen eines restriktiven Systems.
Es ist so viel Ineffizienz im Gesundheitssystem, die Patient:innen werden im Kreis geschickt, es werden so viele unnötige Untersuchungen angeschafft, und es wird viel Geld vergeudet. Ich glaube daran, dass man es besser machen kann, sowohl hinsichtlich der Qualität der Versorgung als auch hinsichtlich des effizienten Einsatzes der Mittel. Viel Frustration – vor allem der jungen Kolleg:innen – entsteht auch, weil sie genau das wahrnehmen.

Ungeachtet meiner Kritik am System möchte ich betonen, dass ein Großteil der Kolleg:innen den Beruf trotz widriger Umstände tagtäglich mit einem unheimlichen Engagement und mit Freude ausübt. Für mich gehört er immer noch zu einem der schönsten, den es gibt!

Mit besten Grüßen
Christoph Dachs