Wo Ärzteschaft und Regierung noch auseinanderliegen

Die Lage in manchen Bereichen des Gesundheitswesens ist deutlich angespannter als öffentlich bekannt.
Dieser Eindruck entsteht, wenn man mit Vertreter:innen von Gesundheitsberufen spricht, die oft noch immer versuchen, durch persönlichen Einsatz Lücken zu schließen. Der Unmut entlud sich zuletzt mit einem Warnstreik in der zentralen Notaufnahme der Wiener Klinik Ottakring (Wilhelminenspital). Landes- und Bundespolitik sehen das zwar, reagieren allerdings zunehmend allergisch auf die Kritik aus der Ärztekammer. Nicht selten ist hinter vorgehaltener Hand der Vorwurf der „Justament-Blockierer“ zu hören. Auch, dass die Ärztekammer Mitschuld an der Misere trüge. So würde mit Blick auf Mehrheitsverhältnisse in der Kammer zu oft auf die wachsende Gruppe der Wahlärztinnen und Wahlärzte gehört und umgekehrt seit Jahren im Gleichklang mit den Kassen beim Ausbau von Kassenarztstellen gebremst.

Gute Gespräche

Die Ärztekammer sieht das anders. Der Streik in Wien sei nicht von ihr ausgegangen, auf die Lücken im System weise man seit Jahren erfolglos hin. Eine Bearbeitung des Leistungskatalogs und der Honorierung sei dringend notwendig. Es brauche zudem mindestens 1.300 zusätzliche Kassenstellen und eine Schaffung von Leistungsanreizen, etwa durch die Abschaffung von Deckelungen und Degressionen, sagt OMR Dr. Edgar Wutscher, Vizepräsident und Bundeskurienobmann der niedergelassenen Ärzte der Österreichischen Ärztekammer. Er fordert zudem eine Flexibilisierung der Kassenverträge und eine bedarfsorientierte Weiterentwicklung des Vertragssystems sowie einen massiven Ausbau und die Finanzierung von Bereitschaftsdiensten, um eine flächendeckende 24/7-Versorgung im extramuralen Bereich gewährleisten zu können – auch durch Telemedizin, Funkdienst, Telefon. Weiters werden mehr Hausapotheken und ein Dispensierrecht für alle Ärztinnen und Ärzte in allen Bundesländern und die Errichtung und Finanzierung von zusätzlichen Versorgungseinheiten vor Spitälern gefordert.

Diskussion über Streik

Es sei angesichts der derzeitigen Situation nicht überraschend, dass es genau in den Fächern, in denen der persönliche Kontakt und die individuelle Beratung extrem wichtig seien – wie die Gynäkologie oder die Kinder- und Jugendheilkunde – Lücken in der kassenärztlichen Versorgung gebe: „Eine Reform der Leistungen ist zwingend notwendig, denn individuelle Beratung, Gesprächsmedizin und die Vorsorge müssen endlich aufgewertet werden“, resümierte Wutscher. Auch bei den Kassenverträgen sehe er dringenden Handlungsbedarf: „Flexibilität ist der Schlüssel zum Erfolg. Ärztliche Zusammenarbeitsformen müssen einfacher und unbürokratischer werden, und auch die Rahmenbedingungen für Primärversorgungseinheiten – die gerade in Ballungsgebieten sehr zu begrüßen sind – sollten weniger starr sein“. Der Weg der Patient:innen müsse klar sein, folgende Reihenfolge hat zu gelten: niedergelassen ⇒ ambulant (auch digital) ⇒ spitalsambulant ⇒ stationär.

Digital vor ambulant vor stationär

In manchen dieser Bereiche gibt es durchaus Übereinstimmung mit den Plänen der Bundesregierung, die bisher bekannt sind. So wünscht sich auch Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) „eine Strukturreform“ nach dem Grundsatz „digital vor ambulant vor stationär“. Er und Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) haben nun Ländern und Gemeinden ihren Vorschlag zum Finanzausgleich vorgelegt. Bis zu 10 Milliarden Euro stellt der Bund in den nächsten fünf Jahren demnach für Reformen in Gesundheit und Pflege bereit, die Ärzte Krone hat bereits berichtet. Im Gesundheitsbereich sollen die zusätzlichen Mittel vor allem in die Stärkung des niedergelassenen Bereichs und in den Ausbau von Fachambulanzen in den Spitälern investiert werden. Geplant sind bis zu 800 zusätzliche Kassenarztstellen und bis 2025 die Schaffung von insgesamt 120 Primärversorgungseinheiten. Geplant sind auch der Ausbau von Fachambulanzen in den Spitälern und ausgelagerten Spitalseinheiten, um eine stationäre Behandlung von Patient:innen zu vermeiden sowie die Digitalisierung mit dem Ausbau der Gesundheitshotline 1450, e-Health-Angeboten wie Video-Konsultationen, verpflichtender Diagnosecodierung bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten und die Anbindung von Wahlärztinnen und Wahlärzten an e-card und ELGA.

e-card für Wahlärztinnen und Wahlärzte

Letzteres stößt manchen Funktionären der Ärztekammer eher sauer auf. „Kolleginnen und Kollegen zu erpressen, wird das System nicht verbessern“, sagt Dr. Harald Mayer, Vizepräsident und Bundeskurienobmann der angestellten Ärzte der Österreichischen Ärztekammer. Er würde seine kleine Wahlarztordination zusperren oder den Patient:innen sagen, dass sie nichts rückerstattet bekommen, „wenn man mich zwingt, eine e-card zu installieren“, sagte der Chirurg am Rande einer Pressekonferenz. Dr. Harald Schlögel, geschäftsführender Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer, sprach von Anfeindungen gegenüber Wahlärztinnen und Wahlärzten. Diese würden sich auch gegen Patient:innen wenden, zu denen man sage: „Wenn du zu einem Privatarzt gehst, dann werden wir dir womöglich – wenn er bestimmte Auflagen nicht erfüllt – die Kostenrückerstattung streichen.“

Wirkstoffverschreibung fix

Einig sind sich Regierung, Sozialversicherung und Ärztekammer darüber, dass die Gesundheitsversorgung der Zukunft viel stärker weg von der Reparaturmedizin und hin zur Vorsorgemedizin müsse. Den Fokus auf die Vorsorge zu legen, würde sich langfristig rechnen, sagt Schlögel: „Da geht es nicht nur um die gesunden Lebensjahre jedes Einzelnen, sondern auch um wirtschaftliche Aspekte. Immerhin haben alle Arbeitgeber:innen mehr von gesunden Arbeitnehmer:innen, und jedes Gesundheitssystem profitiert davon, weil die Kosten für teure Medikamente und teure medizinische Therapien aufgrund von sinnvollen Vorsorgeprogrammen geringer ausfallen“, betonte er. Veränderungen seien jedenfalls ein Muss, ein „Weiter so“ dürfe es nicht geben, sagte Schlögel im Rahmen einer Pressekonferenz. Darüber will er auch mit der Politik reden, doch die blockt ab, wirft der Ärztekammer Reformunwillen vor und schränkt die Mitsprache sogar ein. Primärversorgungseinheiten können künftig auch ohne Zustimmung der Ärztekammer geschaffen werden, für Apotheken soll es eine Wirkstoffverschreibung geben. Details dazu sind noch offen.

Einbindung gefordert

Es sei nicht nachvollziehbar, dass bislang darauf verzichtet wurde, genau die Menschen einzubinden, die die Gesundheitsleistungen auch erbringen, nämlich die Ärztinnen und Ärzte, kritisiert Schlögel und fürchtet Verschlechterungen. Die aktuelle Situation sei genau das Resultat davon, die Leistungserbringer zu wenig einzubeziehen: „Wir haben ein ausgehungertes System, egal ob bei Einzelpraxen, Gruppenpraxen oder anderen Zusammenarbeitsformen und auch in den Spitälern – zu lange hat der Sparstift regiert, und es wurden die Interessen von Patientinnen und Patienten, von Ärztinnen und Ärzten ignoriert. Auch jetzt werden weiter von den Kassen Honorarabschlüsse weit unter der Inflationsrate angeboten, Ärztinnen und Ärzte als wichtigste Ressource im System zahlen also wieder drauf“, zeigt sich Schlögel verärgert.

ÖGK wünscht Solidarität

„In einem solidarischen Gesundheitssystem braucht es solidarische Ärztinnen und Ärzte“, sagt umgekehrt Andreas Huss, Arbeitnehmervertreter der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK). Man könne nicht zulassen, dass die rund 11.000 Wahlärztinnen und Wahlärzte mit dem öffentlichen System „konkurrieren“. Seiner Meinung nach ist es höchste Zeit, das System der Wahlärztinnen und Wahlärzte zu überdenken. Hier sei der Gesetzgeber gefragt. Bei einem sind sich ÖGK und Ärztekammer allerdings einig: Der Leistungskatalog gehöre überarbeitet. Das Ziel der ÖGK sei es, den niedergelassenen Bereich zu stärken und die Spitäler zu entlasten.