Zukunft Allgemeinmedizin

Die Entwicklungen der Organisationsformen der hausärztlichen Versorgung gehen zunehmend in die Richtung der Gründung größerer Organisationseinheiten, die einerseits die hausärztliche Versorgung durch mehrere Ärztinnen und Ärzte an einem Ort wie auch die Einbeziehung anderer Berufsgruppen umfassen. Während in Österreich an dem Ausbau weiterer Primärversorgungseinheiten (PVE) gearbeitet wird, findet in Deutschland Hausarztmedizin zunehmend in medizinischen Versorgungszentren (MVZ) statt, die meist einen Zusammenschluss mehrerer Ärztinnen und Ärzte darstellen (fachgleich oder übergreifend) und nicht zwingend die Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen aus dem Gesundheitsbereich aufweisen müssen. Die Robert-Koch-Stiftung macht es sich seit 2017 zu eigen, multiprofessionelle Primärversorgung in Primärversorgungseinheiten in Deutschland mit den Charakteristika von PHC zu forcieren und zu unterstützen, die den Namen PORT („Patientenorientierte Zentren zur Primär- und Langzeitversorgung“) tragen. Auch wenn das Konzept der Interdisziplinarität auf der Theorie von PHC fußend in Österreich massiv propagiert und finanziell großzügig unterstützt wird, so fehlen bislang trotz verpflichtender Evaluation in den PVEs öffentlich zugängliche Daten über die Verbesserung der Patientenversorgungsqualität, die Effizienz und Patientenzufriedenheit.

Situation in Deutschland

In Deutschland ist die Zahl der Hausärztinnen und Hausärzte, die einen vollen Versorgungsauftrag haben, ab 2009 von 94,5 % auf 76,5 % (2020) zurückgegangen, wohingegen der Anteil der in Teilzeit tätigen Hausärztinnen und Hausärzte im gleichen Zeitraum von 2,4 % auf 11,9 % anstieg.1 Im Jahr 2009 war erst jede:r 16. Allgemeinmediziner:in in Anstellung tätig, im Jahr 2020 bereits mehr als jede:r fünfte.2 Geht man davon aus, dass angestellte Ärztinnen und Ärzte eher im Rahmen ihrer im Anstellungsvertrag vereinbarten Arbeitsstunden arbeiten, als dass dies selbständig unternehmerisch tätige Hausärztinnen und Hausärzte tun, so kann man vermuten, dass es in den letzten Jahren zu einer Verringerung des Volumens der von den Hausärztinnen und Hausärzten erbrachten Arbeitsstunden gekommen ist, was das Ausmaß der Patientenversorgung zunehmend verschlechtert.
Als Argument für die Gründung größerer Organisationseinheiten wird oft vorgebracht, dass gerade diese attraktiver für jüngere Kolleginnen und Kollegen seien. Laut einer Evaluierung aus dem Jahr 2016 geben MVZ in allen Regionen Deutschlands Probleme bei der Besetzung ärztlicher Stellen an. In ländlichen Regionen trifft dies auf mehr als die Hälfte der MVZ zu.3

Ist die fachärztlich-allgemeinmedizinisch spezifische Versorgungsqualität, die sich an den von der EURACT definierten Kriterien orientiert, durch andere Zusammenarbeitsformen und -entwicklungen gefährdet?

Seit Einführung des GKV-Modernisierungsgesetzes im Jahr 2004 gibt es in Deutschland für sogenannte Private-Equity-Gesellschaften die Möglichkeit, sich über die finanzielle Beteiligung an medizinischen Versorgungszentren (MVZ) in die ambulante Versorgung einzukaufen. Finanzinvestoren zahlen für Arztsitze so hohe Beträge, dass junge Ärztinnen und Ärzte mit Niederlassungswunsch oft nicht mithalten können.
In Bayern hat sich die Anzahl der Arztpraxen in Investorenhand von Anfang 2018 bis Ende 2019 um 72 % erhöht. Fast jedes zehnte medizinische Versorgungszentrum zählt hier inzwischen zu den sogenannten Private-Equity-Praxen. Die Ausbreitung solcher investorengeführter Institutionen zieht sich dabei durch zahlreiche Fachbereiche. Ein Gutachten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zeigt zudem, dass Private-Equity-Praxen etwa 10 % mehr Honorar abrechnen als ihre inhabergeführten Pendants. Hinter diesen medizinischen Versorgungszentren stecken zum Teil auch internationale Unternehmen, die in Deutschland oft keine Steuern zahlen. Kritisiert wird, dass durch die Profitorientierung ärztliche Therapiefreiheit verloren geht. Ärztinnen und Ärzte entscheiden nicht mehr unabhängig, welche Behandlung am besten ist, sondern orientieren sich in ihren Empfehlungen daran, womit sich am meisten Geld verdienen lässt. In der Folge verschiebt sich das Leistungsspektrum vom Patientenwohl in Richtung Rendite und führt zusätzlich zu einer verstärkten Konzentration auf rentable Versorgungsbereiche und Regionen. Dies geschieht auf Kosten eines flächendeckenden und wohnortnahen Angebots, was gerade in ländlichen Gebieten die Patientenversorgung gefährdet. Die im Sozialgesetzbuch auch in Deutschland festgeschriebene Versorgungssicherheit könnte durch die Profitorientierung zulasten des Solidarsystems der gesetzlichen Krankenversicherung gehen. Gefährdet werden kann die Krankenversorgung dadurch, dass Gelder bei Unrentabilität (z. B. bei steigenden Zinsen) rasch abgezogen werden und so keine Patientenversorgung mehr gewährleistet ist.

Letztendlich lassen sich die Bedenken gegenüber investorengestützten Zentren auf folgende Punkte zusammenfassen:

  • Wegfall des Schutzes der Unabhängigkeit ärztlicher Entscheidungen
  • keine Gewährleistung der freien Arztwahl
  • Gefährdung eines vertrauensvollen und kontinuierlichen Arzt-Patienten-Verhältnisses
  • Existenz einer wettbewerbsfeindlichen Anbieterdominanz
  • Schwächung der Freiberuflichkeit

Die Profitorientierung investorengeführter Zentren hat zwangsläufig eine Bevorzugung lukrativer Patientengruppen und Behandlungsmethoden zur Folge, welche zu einer Ungleichheit der Patientenversorgung führt (z. B. schlechtere Versorgung älterer Patient:innen wegen intensiveren Behandlungsbedarfs und zeitaufwändigeren Handlings; schlechtere Versorgung von ärmeren Patient:innen, da Zentren meist dort angesiedelt sind, wo sozial besser gestellte Patient:innen lukrativere Einnahmen auch durch den Verkauf von Zusatzleistungen oder -produkten versprechen; weniger Rentabilität von MVZs in ländlichen Gebieten, daher weitere Verschlechterung der dortigen Versorgung gerade hochaltriger Patient:innen, die nicht der Landflucht gefolgt sind). Dies widerspricht elementar dem Wert der Zugänglichkeit und der Gleichheit der Patient:innenversorgung.

Verlust der Behandlungskontinuität

Als wesentlicher Faktor einer Arzt-Patienten-Beziehung in der Allgemeinmedizin gilt die Behandlungskontinuität und damit das explizite Wissen um die Vorgeschichte und die Lebensumstände der Patient:innen („erlebte Anamnese“). Diese Kontinuität wirkt sich wissenschaftlich nachweisbar positiv aus: Die Mortalität kann messbar gesenkt werden. Schon 2008 wurde die Anzahl der in einem MVZ tätigen Ärztinnen und Ärzten mit durchschnittlich 5,8 angegeben. Investorengestützte MVZs stellen Ärztinnen und Ärzte oft nur als Mitarbeiter:innen des Unternehmens und nicht standortgebunden an, sodass es dazu kommen kann, dass diese wechselnd an verschiedenen Standorten in verschieden großen Teams arbeiten. Dies widerspricht im Kern der hausärztlichen Arbeitsweise und charakterisiert eher die Versorgung einer Ambulanz oder Poliklinik, kann daher auch nicht die positiven Wirkungen einer allgemeinmedizinischen Arbeitsweise entfalten. Die Spezifität der allgemeinmedizinischen Arbeitsweise kann in solchen Beschäftigungsverhältnissen nicht abgebildet werden, die Mehrdimensionalität ist so massiv gefährdet.

Attraktivitätsfaktoren für den Nachwuchs

Dem oft vorgetragenen Argument, dass junge Ärztinnen und Ärzte überwiegend im Angestelltenverhältnis arbeiten wollen, stehen die Ergebnisse einer multinationalen Studie zur Berufsmotivation5 Allgemeinmedizin entgegen: Der häufigste Wunsch war der nach einer Arbeit im Team, am liebsten in einer Gemeinschaftspraxis, aber auch in PVEs. Besonders bedeutsam scheint aber, dass besonders arbeitsinhaltliche Faktoren, die Kernelemente hausärztlicher Versorgung darstellen, als Motivatoren für eine Aufnahme hausärztlicher Tätigkeit genannt wurden, wie:

  • die spezifische Arzt-Patienten-Beziehung
  • das breite Patientenspektrum
  • der familienmedizinische Aspekt der Allgemeinmedizin
  • als Hausärztin und Hausarzt primärer Ansprechpartner der Patient:innen zu sein

Es ist zu befürchten, dass Organisationsformen, die oben skizzierte Elemente beinhalten, aufgrund des Wegfalls dieser arbeitsinhaltlichen Voraussetzungen in Zukunft nicht attraktiv für die an Hausarztmedizin interessierten jungen Ärztinnen und Ärzte sind.
Die Besonderheit und die Einzigartigkeit der Allgemeinmedizin und ihrer Arbeitsweise und die Besonderheit des Arztberufes, der in der Vergangenheit weniger als Beruf, sondern als Profession mit spezifischem Charakter und einer eigenen Professionskultur wahrgenommen worden ist5, sind tatsächlich in Gefahr. Die hausärztliche Arbeit, in der wir uns als Generalisten begreifen und unter der nach der DEGAM Definition7 die umfassende Betreuung aller medizinischen, psychischen und soziokulturellen Aspekte des Krankseins unter Einbeziehung der Patient:innen verstanden wird, und deren wesentliche Kriterien – die Kontinuität, die Breite der Betreuung sowie die dabei erwachsende Arzt-Patienten-Beziehung – sind zentrale Elemente der hausärztlichen Arbeit. Eine Industrialisierung der Medizin ist mit einer solchen Arbeitsweise nicht vereinbar.