„Als Kollektiv sind wir noch zu halbherzig.“

Apotheker Krone: Herr Dr. Hutter, wir leben nun bereits seit einigen Monaten in einer riesigen Gesundheitskrise. Was haben wir Ihrer Einschätzung nach als Gesellschaft bisher daraus gelernt?

OA Assoz. Prof. Priv.-Doz. Dipl.-Ing. Dr. Hans-Peter Hutter: Wir haben gemerkt, dass eine Epidemie nicht nur ein Wort ist und etwas, das weit weg von Österreich geschieht und uns nichts angeht, sondern erleben sie jetzt – leider – hautnah. Wir haben kein kollektives Bewusstsein für eine Epidemie – so hat kaum jemand von uns je eine Quarantäne erlebt. Ein weiterer Aspekt sind die Hygieneregeln. Wir haben auch zuvor schon jahrelang getrommelt, wie wichtig es ist, Hände zu waschen und in Grippezeiten größere Menschenansammlungen zu meiden. Durch ­COVID-19 hat das Thema jetzt eindeutig mehr Wertigkeit bekommen. Wir haben drittens gelernt, dass die Politik einschneidende Maßnahmen setzen kann, wenn sie das möchte – das ist völlig neu für uns! Wir haben außerdem gesehen, dass Wissenschaft innerhalb kurzer Zeit sehr viel leisten kann, wenn es sich um ein Thema handelt, das sehr viele Menschen betrifft und wo die Gesellschaft auch Ressourcen zur Forschung bereitstellt. Allein wenn man sich die Zahl an Publikationen ansieht: Rund 62.000 fachspezifische Artikel zu COVID-19 und SARS-CoV-2 sind in dieser kurzen Zeit bereits erschienen – das ist unglaublich! Natürlich geht es vielen derzeit viel zu langsam. Dazu müssen wir als Gesellschaft aber noch lernen, wie die Wissenschaft tickt. Eine Frage ist schnell einmal gestellt. Doch eine fundierte Antwort braucht Zeit!

Bei einem solch großen Lernprozess gibt es aber auch Schattenseiten …

Ja, wir mussten leider sehen, dass sich verstörende Kopflosigkeit enorm schnell verbreitet. Ich würde das, was in Netzwerken und Foren abläuft, als „digitale Epidemie“ bezeichnen.

Steigt die Zahl der Verschwörungstheoretiker wirklich? Oder wird diese Gruppe mit der Zeit nicht einfach nur lauter?

Beides. Diese Menschen werden lauter, aber auch ihre Zahl steigt, sagen Medienexperten.

Welches Verhaltensmuster steckt dahinter?

Man unterscheidet in solchen Krisenzeiten zwei Arten der Reaktion: 1. Die verstärkte Zurückgezogenheit, also ein eher resignatives Verhalten. 2. Die Reaktanz. Dieser Widerwille nimmt zu, weil die Genervtheit steigt. Und wenn man nicht weiß, was als nächstes passieren wird, kann dies auch zu einer aggressiven Grundstimmung führen. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass Menschen beinahe handgreiflich wurden, wo jemand sie höflich aufmerksam gemacht hat, den Mund-Nasen-Schutz zu verwenden. Diese Vorfälle häufen sich. Man muss nur VerkäuferInnen in Geschäften fragen.

Was macht dies alles mit unserer Gesellschaft?

Eine solche Situation der Unsicherheit und der Einschränkungen führt zwangsläufig zu einem Auseinanderdriften von Gruppen in unserer Gesellschaft. Die Spaltung ist zwar noch nicht so weit ausgeprägt wie in den USA, dennoch müssen wir lernen, damit umzugehen. Am Zentrum für Public Health in Wien haben wir daher einen Brief aufgesetzt und an verschiedene Kreise übermittelt, in dem wir zu Überlegungen und Maßnahmen zur Hilfestellung beziehungsweise Entlastung von Mitarbeitern auffordern. Konflikte mit Personen, die den MNS verweigern, machen vielen Arbeitnehmern mit Kundenkontakt das Leben sehr schwer. Es braucht als Antwort darauf ein Bündel von Maßnahmen, wie man mit der Situation umgeht. Dazu zählen unter anderem Schulung und Rückenstärkung im Auftreten gegenüber Mitbürgern, die keine Einsicht zeigen.

Kommen wir nochmals darauf zurück, was wir bisher in der Coronakrise gelernt haben: Wie steht es denn Ihrer Ansicht nach um die Lernfähigkeit unserer Gesellschaft?

Zuerst war es beeindruckend, wie in der Phase der Angst im März alle an einem Strang gezogen haben. Von einem Tag auf den anderen hatte sich das Verhalten geändert. Das hielt jedoch nicht lange an. In einer solchen Situation finden nämlich ­Heilsprediger besonders leicht Gehör. ­
Verschwörungstheoretiker und Wichtig­tuer, welche die Maßnahmen als überflüssig oder sogar als schädlich bezeichnet haben, ließen das Bollwerk bröckeln. So kam es, dass sich kein gesellschaftlicher Konsens hinsichtlich der Schutzmaßnahmen eingestellt hat. Es ist nicht so, dass wir nicht lernfähig wären, manche wollen nicht lernen. Im Prinzip sind das simple Maßnahmen, aber als Kollektiv agieren wir insgesamt nur halbherzig. Das ist eine schwierige Ausgangsposition, wenn ich an andere, künftige Krisen denke. Oft sind es Automatismen, die uns im Alltag an der Umsetzung hindern. Wir brauchen nun einen Automatismus in eine andere Richtung.

Wie sieht Ihr bisheriges Fazit zum Contact Tracing aus?

Die Nachverfolgung ist eine der wesentlichen Säulen der Epidemiebekämpfung, das möchte ich besonders betonen. Wir müssen die Nachverfolgung dringend aufbauen. Wenn aber die notwendigen Ressourcen in den Ländern und Bezirkshauptmann­schaften nicht vorhanden sind, wird dieser Systemaufbau völlig unterlaufen! Dann ist es nicht möglich, die Infektionsketten zu unterbrechen. Die Folge ist außerdem, dass es zu Fehlinformationen in unseren Daten kommt. Wir können nicht mehr nachvollziehen, wo die Quelle ist, um entsprechend gezielte Maßnahmen einzuleiten. Unser Ziel muss nämlich sein, nicht mit dem ­chirurgischen Hammer zu agieren, sondern feine, minimalinvasive Maßnahmen zu ­treffen.

Liegen die Fehler in den Daten nicht auch darin begründet, dass sich viele Betroffene nicht deklarieren? Oder anders gesagt: Haben wir ein Problem mit Stigmatisierung?

Ja, und dafür gibt es mehrere Gründe. Viele Erkrankte fühlen sich schuldig. Sie befürchten, andere angesteckt zu haben oder zum Beispiel in Firmen dafür verantwortlich zu sein, dass der Betrieb nicht weiterlaufen kann, wenn sie Kollegen infiziert haben. Oft genug gibt es leider auch viel Druck vom Arbeitgeber. Ein anderer Aspekt ist die Frage: „Was habe ich falsch gemacht?“ Genau diese Schuldzuweisungen sind Gift. In Firmen sollten daher arbeitsmedizinische Maßnahmen zum Infektionsschutz ergriffen werden, die sich nach den Arbeitsplatzbedingungen richten und die genau auf die Transmissionsrisiken abgestimmt sind. Insgesamt müssen wir Systeme so aufbauen, dass sie eine höhere Widerstandskraft haben als bisher.

Wir sprachen eingangs davon, was wir bisher in der Coronakrise gelernt haben. Was aber haben wir definitiv noch nicht gelernt?

Das Denkschema zum Thema Prävention passt nicht. Wir haben im Prinzip nicht gelernt, was Prävention wirklich bedeutet, denn daraus erklärt sich die Sorglosigkeit, die wir seit der ersten Welle erlebt haben. Das Präventionsparadoxon, das darin besteht, dass durch die Maßnahmen das Schlimmste verhütet wurde, verleitet dazu, zu denken: „So schlimm war es ja nicht!“
Das hat sicher eine große Rolle gespielt, dass wir in eine so starke zweite Welle gekommen sind. Hier muss man wirklich noch besser aufklären und sagen: Vorbeugung ist anstrengend, aber wir müssen sie aufrechterhalten, auch wenn scheinbar wegen niedriger Fallzahlen kein Anlass dazu gegeben scheint. Die gleiche Sorglosigkeit scheint auch in der Politik eingerissen zu sein. Man dachte: Nun ist es überstanden. Wir haben vor der Reiserückkehrerwelle gewarnt, aber man hat es verabsäumt, Rückkehrer aus Gebieten mit hohem Risiko in Quarantäne zu schicken und zu testen. Deutschland hat das getan und hatte im Vergleich zu Österreich wesentlich niedrigere Fallzahlen, obwohl auch dort die zweite Welle nicht zu verhindern war.