Bessere Vernetzung ist dringend nötig

Was waren für Sie die Meilensteine der Diabetologie?

Alexandra Kautzky-Willer: Mittlerweile kann man wirklich sagen, dass wir viele tolle Medikamente zur Verfügung haben. Die nicht nur in den Blutzucker senken, sondern wirklich auch tolle Zusatzeffekte haben. Herzinsuffizienz kann mittlerweile reduziert werden, viele kardiovaskuläre Probleme können positiv beeinflusst werden, oder eine Nierenerkrankung kann offensichtlich verzögert werden. Aber nicht nur die Medikamente haben einen großen Sprung nach vorne gemacht, auch die Devices zur Blutzuckermessung werden immer besser und verbessern die Lebensqualität der Patienten enorm. Es ist wirklich schön, im Diabetesbereich zu arbeiten, weil die Therapiemöglichkeiten immer besser werden und mit neuen Techniken auch immer spannendere Daten dazukommen.

Wie steht es um die Versorgung der österreichischen Diabetespatienten?

Prinzipiell ist die Versorgung in Österreich sehr gut, da wir ja alle das Glück haben, versichert zu sein, und Zugang zu Gesundheitsleistungen und Medikamenten haben. Dennoch gibt es ganz klare Unterschiede in der Häufigkeit der Erkrankungen Adipositas und Typ-2-Diabetes, der ja die große Masse der von Diabetes Betroffenen ausmacht, und dadurch auch in der Verteilung der Diabetespatienten. Interessant ist der Unterschied zwischen dem Westen und Osten Österreichs. Im Westen sind viel weniger Patienten von Diabetes betroffen als im Osten Österreichs. Mit dem Ballungszentrum Wien können wir schon eine große Menge an Patienten gut betreuen, insbesondere durch Schwerpunktzentren und Spitalsambulanzen. Eine ideale Lösung ist das freilich nicht. Zwar sind die Patienten dort gut versorgt, dennoch sind die Ambulanzen heillos überlaufen. Ein besseres Netzwerk mit den niedergelassenen Ärzten ist dringend notwendig, um die so wichtige Umschichtung und zugleich bessere Zusammenarbeit mit dem niedergelassenen Bereich zu erreichen. Der Hausarzt sollte immer der erste Ansprechpartner von Patienten mit Diabetes sein.

Kann abgeschätzt werden, wie viele Personen betroffen sind und wie sich diese Zahl entwickeln wird?

Insgesamt kann man in Österreich davon ausgehen, dass jeder Zehnte von einem Diabetes betroffen ist. Das alleine ist schon eine riesige Menge. Bei circa drei Prozent ist die Erkrankung noch nicht diagnostiziert, da ja bei vielen über lange Zeit keine Symptome bemerkt werden und Screening-Programme fehlen. Dazu kommen noch jene Hochrisiko-Personen, die von einem Prädiabetes betroffen sind, von denen circa ein Drittel einen manifesten Diabetes entwickelt. Diabetes mellitus ist eine Erkrankung, deren Prävalenz ständig zunimmt. Deshalb wird die Versorgung wohl in Zukunft sicher noch schwieriger werden, als es aktuell der Fall ist. Außerdem ist es eine so vielschichtige Krankheit. Gott sei Dank werden die ­Lebenserwartung und auch die Lebensqualität der Betroffenen immer höher und besser! Auch die Inzidenz von Spätkomplikationen wird weniger, aber dadurch, dass die Masse mehr wird, nimmt die Menge an zu therapierenden Personen einfach enorm zu. Im Klartext heißt das, es rollt eine riesige Welle an Diabetespatienten auf uns zu.

Also muss auch die Zahl der Fachkräfte steigen?

Im niedergelassenen Bereich fehlen uns neben Allgemeinmedizinern auch immer mehr Spezialisten, vor allem im Osten Österreichs. Die Diabetes Gesellschaft versucht mit entsprechenden Fortbildungen, mehr Mediziner für ­die Behandlung des Diabetes zu begeistern. Dabei sind vor allem die Frühjahrstagung sowie die Jahrestagung hervorzuheben sowie diverse weitere Ver-anstaltungen wie der Wrap-up, bei dem immer über aktuelle, praxisrelevante und interessante Ergebnisse von den Kongressen informiert wird. Anfang des Jahres haben wir immer mit unserer Frühjahrstagung eine sehr praxisnahe Fortbildung, bei der wir versuchen, die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse für die niedergelassenen Kollegen nützlich aufzubereiten. Heuer werden die neuen Leitlinien der ÖDG ein wichtiges Thema sein. Kurz gesagt, brauchen wir einfach auch Ärzte mit dem Zusatzfach Endokrinologie und Diabetologie, die im Fall der Fälle anderen Kollegen bei einem schwierigen Fall schnell Hilfe leisten können. Dadurch kann die Weiterleitung in eine Spitalsambulanz oftmals verhindert werden und folglich bleiben dort die Ressourcen für die wirklich schwierigen Komplikationen. So stelle ich mir ein gutes Netzwerk vor.

Wie weit werden diese Guidelines greifen?

Die neuen Consensus Guidelines wurden von der amerikanischen sowie der europäischen Diabetesgesellschaft vorgestellt. Hier werden auch verschiede Szenarien beschrieben, und der Behandler kann sich umfassend informieren. Auch Komplikationen werden diskutiert. Es geht hier einfach wirklich darum, alle Risikofaktoren und vor allem die Lebensgeschichte des Patienten in die Therapie miteinzubeziehen. Denn nur dadurch können eine personalisierte Therapie ermöglicht und schwere Komplikationen verhindert werden.

Was kann noch getan werden, um die Versorgung abzusichern?

Um die Versorgung noch effizienter zu gestalten, fordern wir einen Stufenplan, der den Patienten je nach Schwere der Erkrankung einteilt und sofort sichtbar macht, was primär gemacht werden muss. Also zum Beispiel, ob die Basisversorgung beim Hausarzt reicht, ob eine internistische Intervention erforderlich ist, ob ein interdisziplinäres Team nötig ist und dergleichen. Im Disease-Management-Programm, kurz DMP, mit dem Titel „Therapie Aktiv“ ist zwar die Zusammenarbeit zwischen den niedergelassenen Allgemeinmedizinern und Spitalsambulanzen geregelt, die nächsten Stufen aber nicht mehr. Vor vielen Jahren haben wir mit dem Gesundheitsministerium Pläne erarbeitet, die aber leider nicht umgesetzt wurden. Ebenso wie die Diabetesstrategie, die vom Ministerium beauftragt wurde und mit vielen guten Ideen von Experten und allen Stakeholdern ausgearbeitet wurde. Leider stockt jetzt auch die Umsetzung, wir hoffen, dass es hier bald weitergeht.

Was halten Sie von dem DMP „Therapie Aktiv“ und was sind die Vorteile davon?

Diabetesversorgung ist generell zeitaufwändig, und es ist nicht immer einfach, sich so intensiv mit einem Patienten auseinanderzusetzen. Man muss den Patienten schulen, motivieren und das Gespräch aktiv suchen. Diese so wichtigen Dinge werden leider noch immer nicht von den Kassen honoriert. In der normalen Routine zählt eben ein Gespräch nicht so viel wie eine körperliche Untersuchung, ist aber dennoch genauso wichtig. Abhilfe könnte die Installation des DMP „Therapie aktiv“ schaffen. Mit diesem steht den Ärzten ein gutes Programm zur Basisversorgung von Diabetespatienten zur Verfügung. Leider sind derzeit erst ungefähr 70.000 Patienten in diesem Programm eingebunden, das auch von der ÖDG unterstützt wird. Mittlerweile gibt es in allen Bundesländern die Möglichkeit an diesem DMP teilzunehmen. Daten aus Salzburg bestätigen mittlerweile, dass sich die Qualität der Versorgung mit der Teilnahme an „Therapie aktiv“ verbessern kann. Natürlich darf man aber nicht vergessen, dass es meist nur Sinn ergibt sich mit dem DMP zu beschäftigen, wenn man eine entsprechende Anzahl an Patienten hat, die eingeschlossen werden können. Denn die Installation eines solchen Programms in den Routineablauf ist zeitaufwändig. Im Vorfeld müssen die Strukturen organisiert, Schulungen ausgerichtet und der Ablauf in die Praxis integriert werden. Aber wenn mehrere Patienten versorgt werden ist es eine absolute Verbesserung für den Arzt und auch für den Patienten.

Denken Sie, dass sich dadurch auch die Adhärenz der Patienten erhöhen kann?

Ich glaube schon, dass Programme wie „Therapie Aktiv“ einen positiven Einfluss auf die Compliance der Patienten haben können. Denn dadurch hat nicht nur der Behandler einen strukturierten Behandlungsplan, sondern auch der Patient kann sich an einem vorgegebenen Ablauf orientieren, muss selbst auch Verantwortung übernehmen und an den vereinbarten Zielen mitarbeiten. Als gut informierter Patient ist er aktiver Teil der Therapie. Was ich für besonders wichtig erachte.

Inwieweit spielt die Arzt-Patienten-Beziehung eine Rolle?

Einen Diabetespatienten gut zu behandeln und zu begleiten ist für keinen Arzt eine leichte Aufgabe. Nehmen wir einen Patienten mit Diabetes Typ 2. Einerseits muss man ihn ausreichend informieren, ihn schulen und oftmals seine Lebenssituation verändern. Ein übergewichtiger Betroffener muss plötzlich sein Leben auf den Kopf stellen. Nicht nur seine Ernährung vollkommen umstellen, sondern auch lernen, wie eine gesunde Ernährung überhaupt funktioniert. Außerdem muss er Bewegung und Sport in seinen Alltag integrieren, Blutzucker messen. Der Arzt muss ihn dabei bestmöglich unterstützen, an seine Disziplin appellieren und ihn primär motivieren. Dazu braucht es eine gute Kommunikation und Feingefühl des Behandlers, oft auch eine psychologische Schulung. Um den Patienten umfassend zu begleiten, ist es auch essenziell, ein gutes Netzwerk an Diabetesberatern, Diätologen und Schulungspersonal zu haben. Studien haben gezeigt, dass im Anfangsstadium eines Diabetes massive günstige Lebensstilveränderungen einen enormen Benefit auf die Krankheitsprogression haben können und auch die medikamentöse Therapie sehr positiv beeinflussen können.

Gibt es schwierige Konstellationen oder Situationen?

Weitere besondere Herausforderungen sind die individuellen Lebensabschnitte, in denen sich der Betroffene gerade befindet. Besonders hervorheben möchte ich die Transition von Jugend- ins Erwachsenenalter bei Typ-1-Diabetes. Hier braucht es viel ärztliche Zuwendung und Betreuung. Da gibt es in Österreich sicher noch Verbesserungsbedarf – auch in der Zusammenarbeit der Zentren. In dieser Phase der Jugendlichen kommt es oft zu plötzlichen Veränderungen im Leben und in der Therapie. Nicht nur, dass Verschlechterungen in der Insulinempfindlichkeit besonders bei Mädchen auftreten können, sondern es ändern sich auch die Anforderungen an den Behandler. Eine weitere ­Herausforderung ist der Schwangerschaftsdiabetes. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist eine optimale Therapie, denn es geht nicht nur um die Gesundheit der Mutter, sondern auch darum, die Auswirkungen auf das Kind so gering wie möglich zu halten. Langzeitstudien haben gezeigt, dass wenn der Blutzucker der Mutter nicht optimal eingestellt ist, das Erkrankungsrisiko der Kinder für Übergewicht oder Diabetes später wesentlich höher ist. Tragisch sind auch die Neuropathien, bei denen wir bis dato leider keine guten Therapiemöglichkeiten haben. Auch der Zusammenhang zwischen Demenz und Diabetes wird immer klarer. Man sieht, wie schwierig die Therapie sein kann.

Diabetes ist somit eine vielschichtige Erkrankung?

Nicht ohne Grund haben wir die bevorstehende Jahrestagung unter das Motto „Die vielen Gesichter des Diabetes“ gestellt. Diese Krankheit spielt sich auf so vielen Ebenen ab, und daher ist es einfach eine besondere Herausforderung, die bestmögliche Therapie für den einen Patienten herauszufinden. Neben der individuellen Ebene, Risikofaktoren, Verhaltensweisen oder auch genetischen Faktoren kommen auch noch die Subtypen der Erkrankung hinzu. Manche haben eine massive Insulinresistenz mit viel Bauch- und Leberfett und erhöhtem kardiovaskulären Risiko, andere sind schlank mit dominanter Insulinsekretionsstörung und oft ausgeprägter Hyperglykämie sowie hohem Risiko für mikrovaskuläre Komplikationen. Wieder andere haben erst im hohen Alter mildere Formen. Außerdem beeinflussen Umweltbedingungen das Diabetesrisiko. Wie zum Beispiel die Städteplanung, die Lebensmittelindustrie, Arbeitsbedingungen, gibt es Infrastruktur und Grünflächen, um sich sicher zu bewegen und sportlich zu betätigen, wie steht es mit dem Nichtraucherschutz und so weiter. Dazu kommen auch sozioökonomische Aspekte wie Bildung oder finanzielle Situation. Denn wie wir wissen, ist Armut mit einem höheren Diabetesrisiko verbunden.

Ende November findet die Jahrestagung der Fachgesellschaft in Salzburg statt. Was erwartet die Teilnehmer?

Auch heuer konnten wir wieder ein schönes Programm zusammenstellen. Ganz wichtig war uns dabei auch die Kooperation mit anderen Fachgesellschaften, wie der Osteoporose-Gesellschaft, der Gesellschaft für Kardiologie und um ein immer wichtiger werdendes Thema genau beleuchten zu können: auch psychologische Themen wie spezifische Belastungen und Herausforderungen bei Diabetes. Weiters unterschiedliche Facetten und Behandlungsmöglichkeiten bei Fettstoffwechselstörungen, spezielle Probleme bei Typ-1-Diabetes und Jugendlichen, Schwangeren und neue Technologien und Devices für die Überwachung und Behandlung unserer Patienten. Den Schluss wird wieder ein spannender Diskurs zu den aktuellen Therapiezielen bilden. Mein Anliegen ist, dass wieder viele Allgemeinmediziner unsere Jahrestagung besuchen und das tolle Programm in Anspruch nehmen, um über die neuesten Entwicklungen informiert zu sein. Denn nichts ist wichtiger, als einen guten Wissensstand zu fördern und österreichweit zu verbessern. Nur so können wir die Menge an Diabetespatienten gut therapieren. Das Feedback war bis jetzt immer sehr gut, und wir freuen uns wirklich sehr, dass uns so viele jedes Jahr unterstützen und teilnehmen.

Was sollte in den nächsten Jahren unbedingt noch ermöglicht werden?

Für die Zukunft wünsche ich mir primär einmal Geld für die Erforschung neuer Medikamente und die Errichtung weiterer Studienzentren und dass wir genügend Endokrinologen und Diabetesspezialisten haben. Für ein kleines Land ist es wichtig, auch eigene Daten über Register oder verfügbare elektronische Daten zu generieren, um Qualität zu prüfen und Patienten besser behandeln zu können. Ein großes Anliegen ist mir auch die Prävention. Einen Schwerpunkt sehe ich da bei Frauen mit Schwangerschaftsdiabetes und ihre Familien, da dies eine große Auswirkung auf die Zukunft der Menschen hat. In diesem Zusammenhang ist die Erweiterung des Mutter-Kind-Passes um eine längere Nachsorge der Mütter ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Zudem wissen wir ja, wer die Risikogruppen sind. Wir sollten die neuen Technologien nutzen und eine Früherkennung vorantreiben. Die immer besser werdenden molekularen Untersuchungen können hier zukünftig sicher auch einen wichtigen Beitrag für das frühe Erkennen von Menschen mit besonders hohem Risiko leisten.