False Balance: die Falle im wissenschaftlichen Diskurs

Es ist ein fast täglich wiederkehrendes Phänomen: In der Berichterstattung zu Gesundheits- und Wissenschaftsthemen (und in Talkshows) kommen Personen zu Wort, deren Standpunkte sich deutlich voneinander unterscheiden – ganz im Sinne einer ausgewogenen Berichterstattung. Sehr oft bekommen damit auch Menschen eine Bühne, die aus wissenschaftlicher Sicht eine Außenseitermeinung vertreten. Konsumiert man einen solchen Pro- und Contra-Artikel oder lauscht man zwei Diskutanten in einer Sendung, ergibt sich schnell das Bild, als stünden sich dabei zwei große Meinungsblöcke gegenüber. Oft ist das aber nicht der Fall, sondern ein Diskutant vertritt nur eine wissenschaftliche Minderheit, der andere hat den Großteil der Forscherwelt hinter sich. Für den Leser oder Hörer ist das aber nicht immer klar, vor allem wenn der „Außenseiter“ dann auch noch rhetorisch sehr gewandt oder manipulativ ist. Gleiches gilt, wenn eine Studie, die 90 % der anderen Publikationen widerspricht, groß berichtet wird (ohne auf Methodik und Design einzugehen). Es handelt sich bei all dem um eine falsche Ausgewogenheit („False Balance“) – und diese ist gefährlich. Sie kann Zweifel an den Errungenschaften von Medizin und Pharmazie nähren, Impfskepsis befördern und zur völligen Irritation bei vielen Gesundheitsthemen beitragen.
Wie kann man dieser False Balance nun entgegentreten, ohne Meinungsfreiheit zu unterbinden oder wissenschaftlichen Diskurs einzuschränken? Erstens, indem man in Medien einen Grundkonsens definiert, auf dessen Grundlage argumentiert wird. Coronaleugner, Impfgegner und Effekthascher fallen aus diesem Konsens heraus. Sie können über ihre Kanäle in diversen Netzwerken ihre Meinung kundtun, aber es besteht keinerlei Aufgabe, diese Positionen in einem öffentlichen Medium abzubilden. Schließlich gibt man auch Gegnern von Sicherheitsgurten im Auto keinen Raum in öffentlichen Sendungen. Zweitens, indem eine Außenseitermeinung nicht ohne sofortigen Faktencheck stehen gelassen wird. Es muss zum Beispiel beim Thema COVID-19-Impfung anschaulich dargestellt werden, wie sehr der Nutzen überwiegt. Wenn sich jemand hinstellt und die Impfung nicht als Gamechanger bezeichnet, gibt es genügend Zahlenmaterial, um die Position zu widerlegen; und im Sinne echter Ausgewogenheit darauf hinzuweisen, dass es eben leider einzelne Durchbrüche gibt. Auch weil nie eine 100-prozentige Sicherheit besteht, das zu vermitteln, wäre wirklich wichtig. Drittens, indem wir davon abgehen, die Welt in Pro und Contra zu teilen. Schwarz-Weiß-Debatten sind gerade bei der Gesundheit nicht förderlich, da es bei Aufklärung und Stärkung der Health Literacy auch sehr viel um differenzierte Betrachtungs- und Vorgehensweisen geht. Und schließlich viertens, nicht in Alarmismus verfallen. Wenn jeder Impfdurchbruch eine Meldung wert ist, müsste man (Gedankenspiel …) konsequenterweise auch über jeden Geimpften mit gutem Antikörperstatus berichten, der mit COVID-Infizierten in Kontakt war und gesund geblieben ist. Das macht natürlich niemand. Aber wir sollten uns zumindest bewusst sein, dass wir täglich von einer False Balance umgeben sind – und uns von dieser nicht irritieren lassen.