Kollektivschutz oder Individualschutz?

Bei einigen impfpräventablen Erkrankungen ist es in letzter Zeit zu gravierenden Änderungen
der Impfempfehlungen der WHO gekommen. Unter anderem wurde die Gültigkeit (!) der
Gelbfieberimpfung auf lebenslang hochgestuft. Die Frage, inwieweit die geänderten WHO-Empfehlungen auf Reiseempfehlungen umzulegen sind, hat zum Teil für Diskussionen gesorgt. Die namhaften österreichischen Fachgesellschaften haben nun vor kurzem ein Konsensus-Statement zu Reiseimpfungen erarbeitet, das den WHO-Empfehlungen zwar Rechnung trägt, in einzelnen Aspekten aber davon abweicht. Vor dem Hintergrund weltweit limitierter Impfstoffmengen zielen die WHO-Empfehlungen auf den damit erreichbaren maximalen Kollektivschutz ab und fokussieren insbesondere in Endemiegebieten auf eine möglichst breite Grundimmunisierung.

Reisemedizin muss jedoch darüber hinausgehen und auf den tatsächlichen Individualschutz abzielen. Die Gültigkeitsdauer einer – für viele Länder formal vorgeschriebenen – Gelbfieberimpfung (ab nun „lebenslang“) darf dabei nicht mit einer tatsächlichen Impfschutzdauer gleichgesetzt werden, erläutert Reisemediziner Herwig Kollaritsch im Interview (Seite 19). Ob und zu welchen Impfungen geraten wird, richtet sich neben geografischen und epidemiologischen Parametern auch nach der Art der Reise.

Die Fragen zu Individualschutz und Kollektivschutz beschäftigen derzeit auch die laufenden gesundheitspolitischen Diskussionen, wenn auch mit anderen Vorzeichen. Bei uns scheitert ein
breiter Kollektivschutz nicht an limitierten Impfstoffmengen, sondern an einer limitierten Impfbereitschaft – und an fehlenden strukturierten Konzepten. Die rezenten Masernausbrüche und ein aktueller Fall einer schweren Rötelnembryopathie sind dabei nur die Spitze des Eisberges. Die endlosen Diskussionen um die „altruistisch motivierten“ Impfungen zum kollektiven Herdenschutz greifen zu kurz.

Impflücken bestehen bei uns aus vielerlei Gründen. Wenn grundimmunisierte, prinzipiell impfbereite Generationen Impflücken haben – bei Polio, bei Pertussis, bei Hepatitis, bei FSME – und auf ihre Auffrischungen vergessen, schreit das nach gesundheitspolitischen Maßnahmen. Denn das liegt weniger an weltanschaulichen Gründen als vielmehr an Unwissenheit, fehlender Motivation – und auch an einer fehlenden standardisierten Verankerung der Impfungen in der
Erwachsenenmedizin …

Sich laufend ändernde Impfschemata erleichtern die Grundimmunisierung im Kindesalter, keine Frage! Doch was ist danach? Bei welchem Schema wird wie aufgefrischt? Kinderärzte impfen
die Kinder, wer impft deren Eltern? Die Unfallspitäler boostern Tetanus, aber jahrzehntelang
fragt niemand nach Pertussis. Muss man Hepatitis auffrischen? Nein beziehungsweise auch ja, je nach Alter bei Grundimmunisierung et cetera … Der Schutz vor HPV war der Gesundheitspolitik jahrelang gar nichts wert, jetzt wundern wir uns … Beispiele fallen mir viele ein.
Und dazu kommt Standespolitisches. Wer soll wem zu welcher Impfung raten? Welcher Impfstoff ist wo und für wen zu welchen Kosten verfügbar? – Und wer darf überhaupt wen impfen?

Was fehlt, sind Konzepte zu einem breiten, tatsächlich niederschwelligen Zugang …

Susanne Hinger