Komplementäre Krebstherapie – nur durch Spezialisten

Welchen Stellenwert hat die Komplemen-tärmedizin in der Onkologie?

Leo Auerbach: Heute erhalten 70 Prozent aller Krebserkrankten komplementärmedizinische Therapieformen begleitend zu ihrer klinischen Therapie. Dabei möchte ich das Wort „begleitend“ besonders betonen, denn noch immer werden Komplementärmedizin und Alternativmedizin im Alltag verwechselt. Letztere lehnt die Schulmedizin ab, während die komplementärmedizinischen Therapieformen die klinische Behandlung unterstützen und beim Erhalt von Lebensqualität während und nach der Krebstherapie sowie bei der Beherrschung der Nebenwirkungen und der raschen Rehabilitation eine wichtige Rolle spielen.

Wie sieht es mit der Evidenz rund um die onkologische Komplementärmedizin aus?

Es gibt keinen Zweifel mehr daran, dass begleitende Krebstherapien zu einer besseren Lebensqualität und besseren Outcomes in der Rehabilitation führen. Was den Nachweis einer onkologischen Wirksamkeit betrifft, sind wir jedoch noch nicht ganz so weit. Wichtig ist, dass die Ergebnisse aktueller wissenschaftlicher Studien in das therapeutische Gesamtkonzept einfließen, um beurteilen zu können, welche der komplementären Therapieformen gefahrlos und zusätzlich zu den modernen klinischen Therapiestrategien eingesetzt werden können, damit sie zu keiner Interaktion mit oder zu einer Abschwächung der klinisch-onkologischen Therapie führen.

Für welche Wirkstoffe liegt gute Evidenz vor?

Gute Evidenz gibt es bei korrektem Einsatz zum Beispiel für die Einnahme von Spurenelementen wie Selen und Vitamin D, Curcumin, für pflanzliche Therapien wie Phytoöstrogene beim Mammakarzinom und Prostatakarzinom, in Abhängigkeit von der Art der antihormonellen Therapie, aber auch für japanische Pilze und Johanniskraut außerhalb der Zeit der Chemotherapie. Die Misteltherapie ist in Mitteleuropa die häufigste und wissenschaftlich bestuntersuchte komplementäre Therapieform. Der Einsatz bei den meisten Krebserkrankungen ist sicher, gemeinsam eingesetzt mit den neuen modernen zielgerichteten Krebstherapien und Immunotherapien, gibt es bisher leider noch kaum Evidenz, das wird sich jedoch ändern.

Was kann die Misteltherapie?

Die Misteltherapie zeigt positive Ergebnisse in Bezug auf Verbesserung der Lebensqualität und Verträglichkeit nach Operation beziehungsweise Chemo- und Radiotherapie, vor allem in Bezug auf positiven Einfluss bei Fatigue, Schlafstörungen, Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit, Durchfall, Angst und Schmerzen. Darüber hinaus ist eine deutliche Steigerung von Leistungsfähigkeit und Reduzierung der Infektanfälligkeit zu beobachten. Und nicht zuletzt gibt es auch Hinweise auf eine Verlängerung der Überlebenszeit, so war in einer prospektiv randomisierten Untersuchung aus dem Jahr 2013 bei 220 Patienten mit fortgeschrittenem Pankreaskarzinom nicht nur eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität, sondern auch eine klinisch relevante signifikante Lebensverlängerung nachzuweisen.

Nun gibt es eine große Vielfalt von komplementärmedizinischen Produkten und Ansätzen. Wie wählt man die richtigen aus?

Nicht auf die Menge, sondern auf die Qualität kommt es an. Die Grundvoraussetzung für eine begleitende komplementärmedizinische Therapie ist die Kenntnis der schulmedizinischen Therapie. Die wichtigen vier Fragen, die man vor der komplementärmedizinischen Beratung stellen muss, sind: Welche Erkrankung haben Sie? Wie weit ist diese fortgeschritten? Welche Therapie erhalten Sie? Und welche Beschwerden haben Sie? Die Entscheidung, welche komplementären Therapien bei Krebserkrankungen sinnvoll sind, sollte allerdings in jedem Fall durch einen Spezialisten erfolgen und dem betreuenden Onkologen kommuniziert werden.

Wie wird man zum Spezialisten?

Im Rahmen des Fort- und Weiterbildungsprogramms der Österreichischen Ärztekammer gibt es für Ärzte seit mehreren Jahren die Möglichkeit, den ÖÄK-Diplomkurs „Begleitende Krebsbehandlungen“ zu besuchen. Dieser bietet eine intensive Zusammenfassung sowohl der onkologischen als auch von wissenschaftlich orientierten komplementärmedizinischen Behandlungsoptionen an. Mittlerweile wurde dieser Kurs von mehr als 150 Ärzten absolviert – in erster Linie von niedergelassenen und praktischen Ärzten. Auch für Apotheker gibt es regelmäßig Fortbildungen.

Gibt es Begleitmaßnahmen, zu denen man trotz geringer Kenntnis gefahrlos raten kann?

Ein Ansatzpunkt, den man jedem Patienten, der dafür in Frage kommt, ans Herz legen kann, ist die Psychoonkologie – ein zentrales Element der Patientenbegleitung. Dasselbe gilt für Bewegung: Körperliche Aktivität bis zu 30 Minuten etwa 3–4-mal/Woche reduziert nicht nur die Inzidenz von Krebserkrankungen signifikant, sondern hat auch einen positiven Einfluss auf potenzielle Nebenwirkungen von klinischen Krebstherapien, wie Chemo- oder Strahlentherapie.

Von der American Society of Clinical Oncology (ASCO) wurden erstmals Leitlinien zur integrativen Onkologie erstellt, und auch in Deutschland arbeitet man an einer S3-Leitlinie. Welche Relevanz haben diese für Österreich?

Grundsätzlich bin ich für eine Leitlinie, damit ein gewisser Mindeststandard gewährleistet ist. Die amerikanische Leitlinie ist jedoch nur teilweise für uns verwendbar. Jede Region hat ihre eigenen komplementärmedizinischen Schwerpunkte, und während die Amerikaner den Fokus auf „Mind-and-Body-Therapie“ legen, liegt er in Mitteleuropa auf der Misteltherapie, Phytotherapie, Vitaminen und Spurenelementen. In den USA gibt es beispielsweise so gut wie keine Misteltherapie. Eine deutsche Arbeitsgruppe hat es sich nun zur Aufgabe gemacht, auf Basis der ASCO-Guidelines eine eigene Leitlinie zu erstellen, die für Österreich voraussichtlich eine größere Relevanz haben wird.