Interview

„Man kann Psyche und Körper nicht trennen!“

Welche Themen beschäftigen aktuell die Fachrichtung Psychiatrie?

Prim. Assoc.-Prof. Dr. Martin Aigner: Die bereits lange erwartete ICD-11 der WHO liegt erst heuer in einer deutschen Übersetzung vor und hier ist noch einiges im Prozess. Denn es gibt im englischen versus deutschen Sprachraum Zugangsunterschiede zu gewissen Begrifflichkeiten: Im Englischen ist eine Unterscheidung zwischen Krankheit und Störung offenbar nicht so wichtig, im deutschen Sprachraum hingegen schon, wir kennen z. B. den Begriff „Störungsstand“ im Gegensatz zu „Krankenstand“ nicht. Daher gibt es noch Diskussionsbedarf zur deutschen Übersetzung des ICD-11, bei der es darum geht, ob wir wirklich jede Störung Krankheit nennen sollen bzw. wo wir die Grenze ziehen. Denn nicht jede Störung ist eine Krankheit, wie zum Beispiel eine Beziehungsstörung. Dabei geht es auch um gesellschaftliche Verantwortung versus Eigenverantwortung: Während bei Krankheiten sehr wohl die Gesellschaft die Mitverantwortung nennt und Schonung sowie bei Bedarf Krankenstand zugesteht, ist dies bei einer Störung nicht der Fall. Hier liegt der Fokus stärker auf der Eigenverantwortung der Einzelnen. Über diese Grenzen und Übergänge müssen wir noch diskutieren. Ein zweites aktuelles Thema ist eine Differenzierung der Psychiatrie nach der Zeit – vergleichbar mit der Differenzierung der organischen Medizin nach Orten, sprich nach Organen: Früher hat es nur die Psychiatrie gegeben, dann hat sich die Kinder- und Jugendpsychiatrie entwickelt – in Abgrenzung zur „Erwachsenenpsychiatrie“. Momentan entsteht die Transitionspsychiatrie für die Altersgruppe 14–25 Jahre, bei Entwicklungsverzögerungen bis 30 Jahre; dies scheint sich zu einem neuen Fach auszubilden. Gerade in diesem Alter manifestieren sich 80 % der komplexen psychiatrischen Erkrankungen, daher ist diese Zeit sehr wichtig für Präventionsmaßnahmen. Bei Jugendlichen wird es in den nächsten Jahren u. a. eine große Aufgabe von uns sein, auf die psychiatrischen Auswirkungen von Cannabiskonsum hinzuweisen, denn gerade bei frühem Cannabiskonsum besteht die Gefahr für eine Psychose bzw. ein erhöhtes Risiko für Schizophrenie.

An wen sollen sich Menschen mit psychischen Problemen wenden?

In der Schweiz gibt es dreimal so viele Psychiater:innen wie in Österreich, dort sind diese daher eine der ersten Anlaufstellen. Da wir kein so dichtes Netz an psychiatrischer Betreuung haben, müssen bei uns die Allgemeinmediziner:innen eine erste Anlaufstelle für Betroffene sein. Daher ist es gut, dass jetzt über die Fachärztinnen und Fachärzte für Allgemeinmedizin diskutiert wird bzw. diese Überlegungen immer konkreter werden.

Was sollten Ärztinnen und Ärzte fragen, wenn sie eine psychiatrische Erkrankung bei Patient:innen vermuten?

Eine grundlegende Frage ist: Haben Sie Sorgen oder Ängste? Auch das Sexualleben kann Aufschluss geben. Fragen nach Suizidgedanken sind ebenfalls wichtig. Zudem sind offene Fragen zu stellen, bei denen die Patient:innen erzählen können. Wenn eine psychiatrische Erkrankung vorliegt, gilt es je nach Ausprägung die entsprechende Therapie festzulegen. Manchmal genügt eine Psychotherapie, bei komplexen psychischen Erkrankungen ist eine psychiatrische Abklärung und eventuell auch eine Medikation erforderlich. Zudem ist zu bedenken, dass Körper und Psyche, also die Seele, bei einem lebenden Menschen eine Einheit sind. Dazu kommt noch der soziologische Bereich. Das heißt, das Biologische und das Soziologische formen den Menschen. Daher ist es sowohl für die psychische als auch für die körperliche Gesundheit wichtig, dass jemand in der Gesellschaft gut integriert bleibt. Gerade psychiatrische Erkrankungen haben die Tendenz, sich ins Soziale hinein auszuwirken, sozusagen zu „sozialen Metastasen“ zu werden. Denken Sie zum Beispiel an eine Suchterkrankung: Mit der Zeit bekommt ein Mensch mit einer Alkoholerkrankung zumeist Beziehungsprobleme und oftmals auch Schwierigkeiten am Arbeitsplatz. Dazu kommen allerdings oft auch organische Auswirkungen wie z. B. Leberschäden.

Ist die Psychiatrie in der Ausbildung der Allgemeinmediziner:innen ausreichend präsent?

Als die 3 Monate Psychiatrie in den Turnus aufgenommen wurden, war dies ein Meilenstein. Dennoch bin ich der Meinung, dass Allgemeinmediziner:innen noch mehr Kompetenz im Bereich Psychiatrie benötigen. Daher würde ich mir wünschen, dass die Mediziner:innen während ihrer Ausbildung mehr in psychiatrischen Einrichtungen tätig werden können, um mehr Praxis zu sammeln, die dann auch reflektiert und interdisziplinär nachbearbeitet wird.

Welche Bedeutung hat die Arzt-Patienten-Kommunikation speziell im Bereich Psychiatrie? Könnten sich Ärztinnen und Ärzte anderer Fachrichtungen Aspekte aus dem psychiatrischen Gesprächssetting zum Vorbild nehmen?

Es ist für alle Ärztinnen und Ärzte wichtig, den Patient:innen als ganzer Mensch gegenüberzutreten und eine Subjekt-Subjekt-Interaktion zu führen. Dann kann man Probleme und Belastungen der Patient:innen spüren! Wir Menschen haben ein „Bauchgefühl“ und Ärztinnen und Ärzte sollten dieses schulen. Das bedeutet, dass man sich zunächst einmal eingesteht, dass man ein Bauchgefühl hat und dieses in Selbsterfahrungen während der Ausbildung durch Selbsterfahrung „nachschärfen“ kann. Natürlich gilt es dann mit dem Erfragen bestimmter Kriterien immer zu überprüfen, ob das Bauchgefühl objektivierbar ist, denn wir alle können von unseren eigenen Vorurteilen in die Irre geleitet werden.

Was sollten Ärztinnen und Ärzte bei psychischen Erkrankungen in Bezug auf Neben- oder Wechselwirkungen von Medikamenten wissen?

Ab fünf Medikamenten spricht man von Polypharmazie und diese sollte vermieden werden – auch wenn das nicht immer möglich ist. Einige psychiatrische Medikamente haben Interaktionen, dies sollte immer bedacht werden. Ebenso wichtig ist die Tatsache, dass manche Medikamente langfristig eingesetzt werden müssen, um einen Spiegel zu erzielen, andere hingegen nur periodisch eingesetzt werden dürfen wie beispielsweise manche Beruhigungs- oder Schmerzmedikamente, da diese sonst sogar Organschäden oder Abhängigkeit verursachen könnten.

Welche Auswirkungen hat die Pandemie-Situation auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung?

Österreich hat speziell in der ersten Pandemiewelle sehr gute Maßnahmen ergriffen, dadurch ist uns die starke Übersterblichkeit, wie sie andere Länder in den letzten Jahren hatten, erspart geblieben. Nun gilt es zu akzeptieren, dass COVID-19 nicht aufhören wird und wir uns dahingehend anpassen müssen, dass diese Infektionserkrankung nun zu unserem Leben gehört. Das bedeutet meiner Meinung nach, dass die Gemeinschaft bei akuter Gefahr strukturelle Maßnahmen ergreifen muss, ansonsten müssen wir auch eigenverantwortlich unser Leben gestalten. Inzwischen gibt es COVID-19-Impfungen und Medikamente gegen die Erkrankung – damit hat sich die Bedrohungslage deutlich geändert, auch wenn COVID-19 nicht verschwunden ist. Mit dieser neuen Situation müssen wir leben lernen.

Sie sind auch in Sachen Schmerztherapie sehr aktiv. Wie sehen Sie den Zusammenhang zwischen Schmerz und Psyche?

Schmerz per se ist eine Sinneswahrnehmung und ein emotionales Erlebnis, das sich auf unser Verhalten auswirkt. Grundsätzlich muss man klar unterscheiden: Akuter Schmerz ist ein Warnsignal und sollte sofort zu einer geeigneten Verhaltensänderung führen. Doch chronischer Schmerz ist ein Fehlsignal und darf daher nicht zu einem Rückzugsverhalten oder Schonungsverhalten führen, da dies zu sekundären Schäden, sprich zu einer chronischen Schmerzkrankheit, führen würde.

Vielen Dank für das Gespräch!