Mikrobiom: Der Darm auf Achse

Alle inneren und äußeren Oberflächen des Menschen sind mit Mikroorganismen besiedelt, aber rund 95 % der Mikropopulation befinden sich im Gastrointestinaltrakt. Die intestinale Mikrobiota umfasst 100 Billionen Mikroorganismen. Das sind vor allem Bakterien, aber auch Viren, Phagen, Hefen und Protozoen. Die Mikrobendichte steigt vom Magen bis zum Dickdarm an. Die meisten Darmbakterien sind Anaerobier und gewinnen ihre Energie durch Fermentation. Sie weisen ein hohes genetisches Potenzial auf und können sich binnen weniger Stunden an ein verändertes Nahrungsangebot anpassen. Biologisch aktive Substanzen der Bakterien gelangen über das Darmepithel in den Blutkreislauf, wodurch die intestinalen Mikroben nicht nur den Verdauungstrakt und das darmassoziierte Immunsystem, sondern auch die Stoffwechselprozesse des Körpers und das Gehirn beeinflussen. Wissenschafter sind sich daher einig, dass das Darmmikrobiom in Zusammenhang mit vielen Erkrankungen und dem Wohlbefinden steht.1 Wesentlich für die Auswirkungen des Mikrobioms sind die verschiedenen bidirektionalen Achsen im Körper, zum Beispiel die Darm-Hirn-Achse, eine wechselseitige Interaktion des Gehirns mit Organen des Magen-Darm-Traktes. Diese Interaktion findet auf verschiedenen Wegen statt, über Hormone, Botenstoffe von Immunzellen und Darmbakterien. „Die Achse ist an der Reiz- und Stressverarbeitung stark mitbeteiligt“, sagt Univ.-Prof. Dr. Alexander Haslberger vom Department für Ernährungswissenschaften der Universität Wien, der seit Langem in den Bereichen Darmmikrobiota, Gen-Umwelt-Interaktionen, Immunologie und Alterungsfolgen forscht. „Das Netzwerk der Reizverarbeitung besteht aus dem Darmmikrobiomsystem, dem nervösen System, dem Hormonsystem und dem Immunsystem. Sie alle verarbeiten Informationen aus der Umwelt, insbesondere kognitive Informationen, Nahrungsbestandteile, Mikroorganismen oder Antigene.“

Störungen entlang der Darm-Hirn-Achse haben weitreichende Folgen. Depressionspatienten und Menschen mit Angststörungen zum Beispiel weisen ein verändertes Mikrobiom auf. Im Jahr 2019 wurde im Journal Nature publiziert, dass Menschen mit Depressionen ein reduziertes Auftreten von Coprococcus und Dialister haben. Außerdem wurde eine positive Korrelation zwischen der Lebensqualität und der Fähigkeit des Mikrobioms entdeckt, ein Abbauprodukt des Neurotransmitters Dopamin mit der Bezeichnung 3,4-Dihydroxyphenylessigsäure zu synthetisieren.2, 3 Bereits ein akuter Stress wirkt sich auf die Zusammensetzung des Mikrobioms negativ aus und führt zu einer Schwächung der Darmbarriere.4

Die HPA-Achse als Teil des Darmhirns

Eines der Systeme, das eng mit dem Darmmikrobiom interagiert, ist das neuroendokrine System. Es kontrolliert verschiedene Prozesse der Stressantwort mittels der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse), auch Stressachse genannt. Dabei handelt es sich um eine Abfolge von Wechselwirkungen dieser drei Schaltzentralen. Die Interaktion Mikrobiom-Neuroendokrines-System ist von hoher Bedeutung, da verschiedene Störungen der Mikrobiom-Hirn-Achse mit einer Dysregulation der HPA-Achse assoziiert sind. Wiederum ist anzumerken, dass die Kommunikation des Mikrobioms mit der HPA-Achse eng mit anderen Systemen wie dem Immunsystem, der intestinalen Barriere, der Blut-Hirn-Schranke, mikrobiellen Metaboliten und Darmhormonen in Beziehung steht.4

Gestörte Darmmikrobiota mit Konsequenzen auf die Darm-Hirn-Achse und die HPA-Achse wurden bei Depressionen, metabolischen Erkrankungen und dem Reizdarmsyndrom beobachtet. „Diese Vorgänge könnten mit einer erhöhten Permeabilität der intestinalen Barriere zusammenhängen“, erklärt Haslberger. „Eine schlecht zusammengesetzte Mikrobiota begünstigt ein Leaky Gut, es kommt zur Translokation bakterieller Bestandteile, zu Entzündungsreaktionen, und die Darm-Hirn-Achse und die HPA-Achse werden beeinflusst.“

Der Weg von einer Dysbiose zur erhöhten Permeabilität führt über Abnormalitäten im zellulären Turnover (zum Beispiel Zelltod versus -überleben/-proliferation), welche die Darmbarriere durch Modulation der Tight Junctions („Verschlussleisten“) modulieren.4

Die Bidirektionalität der Mikrobiom-HPA-Achse zeigt sich durch das umgekehrte Phänomen, wonach sich vielerlei Formen von Stress auf die Zusammensetzung der Mikrobiota auswirken und zu einer erhöhten gastrointestinalen Permeabilität führen. Dies liegt an durch Stress aktivierten neuroendokrinen Hormonen wie Norepinephrin oder Dopamin, welche das Wachstum von gramnegativen Bakterien steigern. Im Mikrobiom von Reizdarmpatienten nachgewiesen wurde eine erhöhte Zahl an Bakterien der Gruppen Proteobacteria und Firmicutes, während die Zahl der Bacteroidetes deutlich gesenkt war.4

Die Entwicklung der kindlichen Mikrobiota, welche nach neuen Erkenntnissen schon vor der Geburt beginnt, beeinflusst die Ausbildung des Immunsystems, epigenetische Prägung und damit die HPA-Achse. „Gemäß der 1.000-Tage-Hypothese ist somit mütterliche Fürsorge und Ernährung besonders in dieser Zeit für die spätere Entwicklung eines guten Zusammenspiels von Stress und Immunachsen sowie epigenetischer Steuerung besonders wichtig“, sagt Haslberger (Anm.: Die ersten 1.000 Tage werden von der Empfängnis bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr gerechnet).

Beteiligung an Alzheimer-Entstehung?

Spannend sind auch Ergebnisse aus der Alzheimer-Forschung, wie Haslberger berichtet. „Neuroinflammation, Alterungsvorgänge und reduzierte Autophagie schädlicher Proteine im Gehirn werden mit gestörter Balance von Mikrobiota und deren Metaboliten in Zusammenhang gebracht.“ Daraus resultiere eine Beeinträchtigung der Blut-Hirn-Schranke und die Förderung von Neuroinflammation, Nervenschädigung und schließlich Neurodegeneration. Viele Bakterienstämme sind auch in der Lage, extrazelluläre Amyloide zu produzieren, welche die Darmbarriere und die Blut-Hirn-Schranke passieren können. Es kommt dabei auch zu einer Verbreitung des für den Abbau der kognitiven Funktion mitverantwortlichen Amyloid-beta (Aβ). Eine Dysbiose der Darmmikrobiota begünstigt diesen Prozess der Neurodegeneration somit.5, 6

Die Darm-Leber-Achse

Mehr als ein Viertel der Österreicher leidet unter einer nichtalkoholischen Fettleber (NAFLD). Der Lebensstil gilt dabei als Hauptauslöser. Das Darmmikrobiom spielt jedoch ebenfalls eine Rolle bei der Entstehung der Krankheit.

Das Zusammenspiel von Darm und Leber ist bereits recht gut erforscht. Besonders die Interaktionen zwischen Gallensäuren und dem Mikrobiom sind spannend. Die zunächst in der Leber synthetisierten Gallensäuren werden durch das Darmmikrobiom in eine sekundäre Form metabolisiert. „Auf diese Weise regulieren sie die Mikrobiotazusammensetzung direkt“, sagt Haslberger. Gallensäuren regulieren eine Überwucherung und die Zusammensetzung über den Farnesoid-X-Rezeptor (FXR) und den G-gekoppelten Membran-Rezeptor 5 (TGR-5).7 Umgekehrt könne eine Dysbiose dazu führen, dass lipopolysaccharidtragende Bakterien durch die Darmwand ins Blut treten, welche in der Leber zur Bildung proinflammatorischer Botenstoffe führen.

Kurzkettige Fettsäuren als Gesundheitselixier

Die Fähigkeit von Mikroben, Faserstoffe zu fermentieren und daraus kurzkettige Fettsäuren zu synthetisieren, scheint von einer enormen Bedeutung für physiologische und pathophysiologische Prozesse zu sein. Die am besten untersuchten Fettsäuren dieser Art sind Butyrat, Propionat und Acetat. „Kurzkettige Fettsäuren wirken antientzündlich und sind epigenetisch wirksam, vor allem Butyrat und Betahydroxybutyrat“, sagt Haslberger. Erwiesen ist auch ein ernährender und stärkender Effekt auf die Darmzellen und die Darmbarriere. „So ist es nicht verwunderlich, dass Formulierungen von Butyrat und Betahydroxybutyrat als Wirkstoffe gegen Krankheiten des Metabolismus, der Haut, des Darms oder des Zentralnervensystems getestet werden. Fasten und kurzzeitige ketogene Diät führen zu einer erhöhten Produktion von kurzkettigen Fettsäuren, was zur Besserung von Depressionen und metabolischen Erkrankungen führt. Vor dem Hintergrund all dieser Erkenntnisse überrascht es nicht, dass die Wissenschaft intensiv nach Wegen sucht, Bakterien mit hoher Produktion von Butyrat im Darm zu finden oder zu fördern. Die Suche gestaltet sich laut Haslberger aber schwierig, „weil solche Bakterien wie zum Beispiel Faecalibacterium prausnitzii strenge Anaerobier sind und daher schwer hergestellt werden können“. Ein vielversprechender Ansatz ist das so genannte Cross-Feeding. „Ballaststoffe sollen das Wachstum von speziellen Bakteriengruppen fördern, welche kurzkettige Fettsäuren produzieren. Diese vermehren dann das Wachstum von butyratproduzierenden Bakterien.“ Bis es dazu konkrete Ergebnisse gibt, rät Haslberger zu einer unspezifischen guten Nahrung mit vielen Faserstoffen, vor allem Galaktooligosaccharide, denen von der EFSA sogar eine darmunterstützende Wirkung zugesprochen wurde.

Senkrechtstarter Akkermansia und Sirtuine

Prof. Alexander Haslberger verweist im Hinblick auf eine gesundheitsfördernde Wirkung von Darmbakterien auf eine vielversprechende Bakteriengattung: Akkermansia. In Studien hätten sich positive Effekte bei Insulinresistenz gezeigt. „Außerdem gab es einen positiven Einfluss auf das Gewicht, wenngleich dieser nicht signifikant war.“ Es steht zu vermuten, dass man von dieser Gattung in den kommenden Jahren noch einiges hören wird.

Von großem Forschungsinteresse sind aktuell auch Sirtuine. Dabei handelt es sich um Enzyme, die Funktionen beim antioxidativen Zellschutz, bei der Autophagie und der Beseitigung von alten, gefährlichen, weil entzündungsfördernden Zellen im Körper übernehmen. Durch Pflanzenstoffe wird es möglich, die Aktivität der Sirtuine zu steigern. „In der SIRT-Studie der Universität Wien, durchgeführt von Stephanie Lilja, wird derzeit untersucht, inwieweit Pflanzenextrakte und hydrolisierte Galaktomannane die Aktivität der Sirtuine und Darmmikrobiota beeinflussen“, erklärt Haslberger, der die Studie leitet. Inwieweit auch Zusammenhänge von Sirtuinen mit dem Mikrobiom bestehen, wird die Zukunft zeigen.

Generell kann man laut Haslberger mit einer Lebensstiländerung das Mikrobiom zum Positiven verändern. „Stellen sich jedoch alte Gewohnheiten wieder ein, fielen Studienprobanden stets schnell wieder auf das Ausgangsniveau zurück.“ Nur eine nachhaltige Änderung erhalte daher die Verbesserung der Mikrobiotazusammensetzung.

 

Take-Home Messages

  • Zwischen dem Darmmikrobiom und den neuroendokrinen Systemen besteht ein enger Zusammenhang über die bidirektionale HPA-Achse (Stressachse).
  • Die Stressachse beeinflusst die Zusammensetzung der intestinalen Mikroflora und wird umgekehrt durch eine Dysbiose und daraus resultierende geschwächte Darmbarriere aktiviert. Depressionen und Reizdarm können die Folgen sein.
  • Eine erhöhte intestinale Permeabilität könnte an der Entstehung von Alzheimer durch Stimulation von Neuroinflammation mitbeteiligt sein.
  • Die Darm-Leber-Achse wird geprägt durch den direkten Einfluss von Gallensäure auf das Mikrobiom und durch das Inflammationsrisiko für die Leber, das durch Dysbiose ausgelöst wird.
  • Kurzkettige Fettsäuren, die durch die Zufuhr unlöslicher Ballaststoffe von Darmbakterien gebildet werden, wirken antiinflammatorisch und stärken die Darmbarriere.
  • Die Stuhltransplantation erweist sich bei der Verdrängung von Clostridium difficile als sinnvoll.
  • Die Gattung Akkermansia ist vielversprechend im Hinblick auf Diabetesvorbeugung und Körpergewichtsoptimierung.

 

 

Literatur:

1 Hahn S, Ferschke M, Groeneveld M, Der Verdauungstrakt, Teil 7: Dickdarm – Anatomie, Physiologie und Mikrobiota. Ernährungs Umschau 7/2019

2 Yang B, Wei J, Ju P, Effects of regulating intestinal microbiota on anxiety symptoms: A systematic review. General Psychiatry 2019; 32:e100056

3 Nature 2019; 566(7742):7; DOI: 10.1038/d41586-019-00483-5

4 Farzi A, Fröhlich E, Holzer P, Gut Microbiota and the Neuroendocrine System. Neurotherapeutics 2018; 15:5–22

5 Hufnagel DA, Tukel C, Chapman MR, Disease to dirt: The biology of microbial amyloids. PLoS Pathog 2013; 9(11):e1003740

6 Kowalski K, Mulak A, Brain-Gut-Microbiota Axis in Alzheimer’s Disease. J Neurogastroenterol Motil 2019; 25(1):48–60

7 Ramirez-Perez O, Cruz-Ramon V, The Role of the Gut Microbiota in Bile Acid Metabolism. Annals of Hepatology 2017; 16(Suppl. 1):s21–s26