Neuer Kampf um rezeptfreie Mittel

Dass die Drogeriemarktkette dm rezeptfreie Medikamente verkaufen will, ist ein offenes Geheimnis. Bisher scheiterte man mit verschiedenen Modellen wie der Kooperation mit der Schweizer Versandapotheke „Zur Rose“. Bei der im Vorjahr fixierten Verordnung zum Versandhandel wurde die Drogeriekette ebenfalls ausgebremst. Click-and-collect-Systeme, bei denen man Arzneimittel im Internet bestellt, die dann im Geschäft hinterlegt werden, wurden verboten. Auch beim Versandhandel muss eine Beratungsmöglichkeit gegeben sein, so die Verordnung.

dm reagierte verschnupft und wollte die Verordnung prüfen. Das dürfte nun geschehen sein. Denn jetzt startet die Drogeriekette einen neuen Anlauf und fährt schwere Geschütze gegen die Apotheken auf: Gewappnet mit einem Gutachten des Verfassungsrechtlers Heinz Mayer wurde nun ein Individualantrag beim Verfassungsgerichtshof eingereicht. Dass Drogerien keine rezeptfreien Medikamente verkaufen dürfen, ist für ihn verfassungswidrig, weil es keinen Unterschied gebe, der diese rechtliche Ungleichbehandlung rechtfertigen könnte. Der Apothekervorbehalt verstoße gegen den Gleichheitssatz, ist der Verfassungsjurist überzeugt. Mit dem Individualantrag wird eine Gesetzesprüfung angeregt. Dabei soll eine Reihe von Paragrafen, insbesondere im Arzneimittelgesetz, geprüft werden. Die rezeptfreien Medikamente sollen im Drogeriemarkt so billig angeboten werden, dass sich jede Familie 100 Euro im Jahr sparen würde, gibt dm-Geschäftsführer Harald Bauer in einem Radiointerview bekannt. dm will sich aus dem OTC-Segment bis zu 100 Millionen Euro Umsatz herausbrechen.

Mag. pharm. Max Wellan, Präsident der Apothekerkammer, blockt ab und fürchtet durch die Umsatzmaximierung eine Zunahme des Arzneimittelkonsums. „Das Ziel der Arzneimittelversorgung ist eine Optimierung in der Arzneimitteleinnahme und keine Maximierung. Kranke Menschen sollen so viele Arzneimittel wie notwendig, aber so wenige wie möglich einnehmen.“ Versuchsballons in Ländern, wo Medikamente über Supermärkte angeboten werden, würden ein verheerendes gesundheitliches Bild zeigen, warnt er. „So gehen in den USA aufgrund der unkontrollierten Abgabe bereits 28 Prozent aller Spitalsaufenthalte auf falsch eingenommene Arzneimittel zurück. Allein in Kalifornien gibt es pro Jahr 60 Lebertransplantationen bei Kindern aufgrund von Paracetamol-Überdosierung.“

Die negativen Erfahrungen im Versandhandel sollten eine Lehre sein, warnt der Kammerpräsident. Unkontrollierte Vertriebswege und Preis-Lockangebote führten zu einem massiven Anstieg bei Arzneimittelfälschungen. Wellan: „Medikamente gehören in die Apotheke.“ Die Beratung der Kunden sei beim Kauf in Drogerien nicht ausreichend gegeben. Vor allem im Hinblick auf Wechsel- und Nebenwirkungen sei eine Beratung unverzichtbar, positioniert sich Wellan. Der Drogerieriese sieht hingegen kein Problem und will Pharmazeuten und eigens ausgebildete Drogisten einstellen. Apotheken, die übers Internet rezeptfreie Medikamente verkaufen dürfen, müssen begleitend zum Onlineverkauf eine Beratungsmöglichkeit anbieten. Das will nun auch dm so umsetzen, indem in den Filialen oder beim Onlineverkauf eine Gratishotline mittels Telefon oder Internet zu einem Pharmazeuten eingerichtet wird.

OTC-Hersteller unter Fusionsdruck

Parallel kommt der OTC-Markt auch innerhalb der Industrie in Bewegung. Die Pharmabranche befindet sich schon seit einigen Monaten angesichts anhaltender Patentausläufe und hoher Forschungskosten im Übernahmefieber. In den USA wurde Ende des vergangenen Jahres die bisher größte Fusion der Branche auf den Weg gebracht: Viagra-Hersteller Pfizer bot 150 Milliarden Euro für den Botox-Produzenten Allergan. Weitere Mega-Deals werden von Experten für die kommenden Wochen und Monate erwartet. Kaum ein Stein auf dem anderen bleiben dürfte vor allem bei den Eigentümern rezeptfreier Arzneimittel. So wurde etwa vor Kurzem bekannt, dass sich der US-Pharmakonzern Mylan den schwedischen Anbieter Meda (unter anderem CB12®, EndWarts®) einverleiben will – für 9,9 Milliarden Dollar. Meda hat erst im Jahr 2014 den italienischen Konzern Rottapharm-Madaus (Echinacin®, Iberogast®, Reparil® und viele andere) übernommen und im Vorjahr umgebaut. Der Kaufpreis lag bei rund 2,3 Milliarden Euro. Mit dem Erwerb wollte Meda schon damals sein Portfolio verbreitern.

Für kräftig Bewegung im OTC-Markt dürfte heuer auch ein geplanter Beteiligungstausch von Boehringer Ingelheim mit dem französischen Pharmakonzern Sanofi sorgen, der auf 12,4 Milliarden Dollar veranschlagt wird. Boehringer Ingelheim will das gesamte OTC-Geschäft (unter anderem Boxagrippal®, Buscopan®, Dulcolax®, Mucosolvan®, Thomapyrin®) an Sanofi (unter anderem Heumann Bronchialtee) abgeben und übernimmt in Gegenzug von Sanofi die Sparte der Tiertherapeutika.

Der deutsche Bayer-Konzern hatte 2014 rund zehn Milliarden Euro für Geschäfte mit frei verkäuflichen Präparaten vom US-Pharmakonzern Merck abgeschlossen. Und der britische Pharmakonzern GlaxoSmithKline wiederum hat nun bekannt gegeben, eine Abspaltung seines Geschäfts mit rezeptfreien Gesundheitsprodukten in Betracht zu ziehen. „Zum ersten Mal haben wir bei GSK ein Geschäft geschaffen, das das Potenzial hat, groß genug zu sein, um eines Tages abgespalten zu werden“, sagte Glaxo-Chef Andrew Witty am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos. Kurzfristig gebe es für einen solchen Schritt aber keine Pläne. Glaxo hatte 2015 für den Bereich ein Gemeinschaftsunternehmen mit dem Schweizer Pharmariesen Novartis gebildet, an dem die Briten mit 63,5 Prozent die Mehrheit halten.

Durchaus gespalten beurteilt Wellan diese Entwicklungen. Er sieht den Kontakt zwischen Pharmakonzernen und Apotheken schwinden. Er habe das Gefühl, dass in der Industrie zunehmend Wirtschaftsleute das Sagen haben. „Da beobachte ich etwa ein Denken, dass man bei einem Produkt unter den Plätzen eins bis drei sein will. Gelingt das nicht, wird es abgestoßen.“ Der Zugang zu den Wurzeln „also zur Entwicklung von Produkten, die den Menschen helfen“, gehe verloren, sagt Wellan. Allerdings eröffne das auch wieder Nischenplayern Möglichkeiten. „Durch Spin-offs entsteht wieder Vielfalt.“