Studienanalyse zu ASS

Der Nutzen von Acetylsalicylsäure ist unbestritten, sei es bei Erkältungskrankheiten und Grippe, in der Schmerztherapie oder in der Sekundärprävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen (CVD) – auch vor dem Hintergrund des erhöhten Risikos gastrointestinaler und intrakranieller Blutungen1. Drei kürzlich publizierte Studien schreiben der regelmäßigen ASS-Einnahme eine weitere Langzeitfolge zu: sie soll das Risiko, eine neovaskuläre AMD zu entwickeln, um das bis zu 3-Fache steigern. Die meisten AMD-Betroffenen leiden an der milderen trockenen bzw. atrophen AMD. Die neovaskuläre AMD, auch bekannt als feuchte bzw. exsudative AMD, ist ein Subtyp der späten AMD und führt bei der Mehrheit der Patienten zu schwerem Sehverlust. Insgesamt ist die AMD die führende Ursache von Blindheit bei älteren Personen.2 Die exakten Ursachen der AMD sind nicht geklärt. Sie hat jedenfalls eine erbliche Komponente. Fortgeschrittenes Lebensalter, Rauchen und CVD gelten als Risikofaktoren. 


Unzulängliche Beweislage

In zahlreichen Studien wurde auch der Einfluss von Medikamenten auf das Erkrankungsrisiko untersucht, darunter ASS. Gemäß der European Eye Study3 mit 4.600 Senioren haben Patienten unter ASS ein doppelt so hohes Risiko, an einer neovaskulären AMD zu erkranken, als Nicht-ASS-Patienten. Limitierend ist, dass dieses Ergebnis auf einer einmaligen Querschnittsuntersuchung basiert, und eine Analyse der Dosis-Wirkung-Beziehung brachte ein paradoxes Ergebnis zum Vorschein: Das AMD-Risiko war bei einer täglichen ASS-Einnahme niedriger als bei einer selteneren Einnahme.
In der longitudinalen populationsbasierten Beaver Dam Eye Study4 wurden 4.926 Menschen über dem 43. Lebensjahr alle fünf Jahre über einen Zeitraum von 20 Jahren augenärztlich untersucht. Bei den Untersuchungen wurde nachgefragt, ob ASS regelmäßig (mindestens 2-mal/Woche für > 3 Wochen) eingenommen wurde. Die Studienautoren geben an, dass die reguläre Einnahme über mindestens 10 Jahre mit einem kleinen, aber statistisch signifikanten Anstieg des Risikos für eine neovaskuläre AMD verbunden ist – nicht aber mit der geographischen AMD, einer Spätfolge der trockenen AMD. Auch diese Studie ist nicht beweisend, da die meisten Probanden ASS einnahmen, um einer CVD vorzubeugen, die aber selbst ein etablierter AMD-Risikofaktor ist. Hinsichtlich Dosis-Wirkung-Beziehung ergibt auch diese Studie wenig Sinn: Das AMD-Risiko war am höchsten, wenn die letzte ASS-Einnahme bereits einige Jahre zurücklag.
Die rezenteste Studie5 wurde im Jänner dieses Jahres publiziert. In einer prospektiven Analyse wurden 2.389 Studienteilnehmer vier Mal innerhalb von 15 Jahren augenärztlich untersucht. Zu Beginn wurden die ASS-Einnahme, der Status einer vorliegenden CVD und die Risikofaktoren einer AMD mittels eines Fragebogens erfasst. Von 257 (10,8 %) Teilnehmern, die regelmäßig ASS nutzten (1 oder mehr/Woche im vergangenen Jahr), entwickelten 63 (24,5 %) eine neovaskuläre AMD. Nach Bereinigung der Daten um Faktoren wie Alter, Geschlecht, Rauchen, CVD, den systolischen Blutdruck und den Body-Mass-Index lag das Risiko einer neovaskulären AMD bei den regelmäßigen ASS-Nutzern bei 9,3 %, bei den Nichtnutzern bei 3,7 %. Die Studienautoren selbst geben an, dass die Ergebnisse nach einer Bereinigung weiterer CVD-Risiko­faktoren (u. a. Diabetes mellitus, Cholesterinspiegel) „geringfügig nichtsignifikant“ (p = 0,06) wurden sowie die Aspirin-Einnahme nur zu Beginn der Studie erfasst und nicht upgedatet wurde.

Fazit

Die Indizien reichen nicht aus, um ein Urteil über den Zusammenhang von ASS-Einnahme und AMD zu fällen, schreiben Kaul & Diamond in einem Kommentar6 zur Studie. Auch seien die Daten aus wissenschaftlich medizinischer Sicht nicht robust genug – da nichtrandomisiertes Studiendesign –, um die gegenwärtige klinische Praxis zu ändern. Erst randomisierte prospektive Studien könnten für Validität sorgen. In der Sekundärprävention sei der Nutzen von ASS unumstritten1, in der CVD-Primärprävention, sei die Evidenz weniger sicher7, weshalb eine patientenindividuelle Abschätzung des Risikos (Blutungen und eventuell AMD) versus des Benefits (Verhinderung einer CVD und eventuell von Krebs) erforderlich sei. In der Beratung in der Apotheke sollte darauf hingewiesen werden, dass eine indizierte ASS-Therapie nicht abgesetzt werden soll, ohne vorab mit dem Arzt zu sprechen.

 

Literatur:
1 Baigent C et al., Lancet 2009; 373(9678):1849-1860
2 Congdon N et al., Arch Ophthalmol 2004; 122(4):477-485
3 de Jong PT et al., Ophthalmology 2012; 119(1):112-118
4 Klein B et al., JAMA 2012; 308(23):2469-2478
5 Liew G et al., JAMA Intern Med doi:10.1001/jamainternmed.2013.1583
6 Kaul S & Diamond GA, JAMA Intern Med doi:10.1001/jamainternmed.3013.2530
7 Seshasai SR et al., Arch Intern Med 2012; 172(3):209-216

 

 

 

Apotheker Krone: Mehrere Studien weisen auf einen Zusammenhang von regelmäßiger ASS-Einnahme und dem erhöhten Risiko einer neovaskulären AMD hin.

Wie interpretieren Sie das Risiko aus …

… ophthalmologischer Sicht?
Univ.-Prof. Dr. Michael Stur: „Es gibt einen Zusammenhang zwischen ASS und fortgeschrittener Makuladegeneration, jedoch ist ASS nicht der ‚Verursacher‘, vielmehr ist ASS-Einnahme ein Marker für das spätere Auftreten einer AMD. Ebenso ist der Entzündungsparameter C-reaktives Protein (CRP) oder eine bestehende Herz-Kreislauf-Erkrankung (CVD) ein Marker für eine AMD. ASS ist ein Medikament, das potenzielle Nebenwirkungen haben kann; ob die AMD eine davon ist, ist nicht bewiesen. Es gibt auch Studien, die keinen Zusammenhang finden konnten. Deshalb belasse ich bei meinen Patienten mit AMD die ASS-Therapie, sofern sie indiziert ist, z. B. im Rahmen der Sekundärprävention einer CVD.“

… pharmakologischer Sicht?

Univ.-Prof. Dr. Bernhard-Michael Mayer:
„Man muss diese Studienergebnisse ernst nehmen, zu bedenken ist aber, dass in Kohortenstudien dieser Art zwar oft die Signifikanz gegeben, aber die Effektstärke meist zu gering ist. Es gibt weiters keinen ersichtlichen Zusammenhang zwischen dem (derzeit bekannten) Wirkungsmechanismus von Acetylsalicylsäure und der Entwicklung einer AMD. Somit sind die Studienergebnisse meines Erachtens nach dem derzeitigen Kenntnisstand unplausibel. Fehlende Plausibilität ändert nichts an den Ergebnissen, ist aber in Kombination mit kleinen Effektstärken problematisch. Jedenfalls ist die Evidenz in diesen Studien keinesfalls ausreichend, um die klinische Praxis zu ändern und auf die gut dokumentierten Vorteile von ASS in der Sekundärprophylaxe zu verzichten.“

… pharmazeutischer Sicht?
Mag. pharm. Monika Wolfram und Dr. Bernhard Ertl: „Aus unserer Sicht müssen alle neuen Studienergebnisse, welche sich durch ansteigende wissenschaftliche Anforderung ergeben, sowohl ernst genommen als auch kritisch hinterfragt werden.
Ob tatsächlich ein kausaler Zusammenhang zwischen regelmäßiger ASS-Einnahme und einem erhöhten Risiko für eine AMD besteht, müssen aber weitere Studien zeigen.
Ist die Einnahme von ASS medizinisch begründet, raten Experten, die Therapie fortzusetzen und nicht eigenmächtig zu unterbrechen. Die Studien sind deshalb als Hinweis zu sehen, dass ASS neben den erwünschten Wirkungen auch Risiken hat. Daher ist von der Einnahme ohne Indikation abzuraten. Eine gelegentliche Einnahme als Schmerzmittel nach Abklärung sämtlicher bekannter Nebenwirkungen und Kontraindikationen betrachten wir weiterhin als unproblematisch.“