Tibetische Medizin: Durchblutungsstörungen im Fokus

Die traditionelle tibetische Medizin (TTM) beruht auf fünf Elementen und drei dynamischen Prinzipien: Lung (Wind), Tripa (Galle) und Beken (Schleim). Lung steht für das bewegende Element, Tripa für das wärmende Prinzip und Beken für den stabilisierenden, kühlenden Aspekt im Körper. Jeder Mensch hat eine eigene Veranlagung und kann eine ausgeprägte Form eines der drei Typen oder eine Mischform sein. Daraus ergeben sich individuelle Persönlichkeitsmerkmale. Ein Übermaß an Lung etwa kann sich in Übersensibilität und psychischer Instabilität äußern, zu viel Beken verlangsamt den Stoffwechsel, ein Übermaß an Tripa wiederum begünstigt Gefühle wie Ärger und Frustration und ist oft ein Risikofaktor für Gefäßerkrankungen. Ziel der jahrhundertealten Anpassungslehre der Persönlichkeitsmerkmale (Konstitution) ist es, die drei Körperprinzipien im Gleichgewicht zu halten. Der Ansatz des tibetischen Medizinsystems ist ganzheitlich und die Erklärungsweise des menschlichen Organismus damit viel weiter gefasst als das westliche Medizindenken, wie Univ.-Prof. Dr. Florian Überall im Gespräch mit der Apotheker Krone betont. „Über viele Jahre haben wir Dokumente und wissenschaftliche Unterlagen zu pflanzlichen tibetischen Mehrstoffrezepturen gesammelt, um einen Bogen zwischen ihrer Verwendung im Bereich der östlichen Kardiologie und der modernen Kardiologie des Westens spannen zu können.“ Der Unterschied in der Herangehensweise zeigt sich schon bei der Diagnose. Dem tibetischen Arzt gelingt es, durch das Abtasten des Speichernervs (Nervus radialis) am Handgelenk (Pulsdiagnose) 48 unterschiedliche Pulsqualitäten abzufragen und diese den Funktionen der Innenorgane des Untersuchten zuzuordnen. Damit erschließt sich ein großer Funktionskreis, der wechselseitige Beeinflussungen unterschiedlicher Organe sichtbar macht. Asiatischen Ärzten des Ayurveda und der TTM gebührt somit das Privileg, die Ersten gewesen zu sein, welche die „personalisierte Medizin“ eingeführt haben.

Ein weiterer Unterschied liegt im Bereich der Verabreichung von Medizinprodukten. Tibetische Ärzte verwenden in der Regel komplexe naturreine Mehrstoffrezepturen ohne künstliche Zusatzstoffe. Zum besseren Verständnis der pharmakologischen Wirkung von Mehrstoffrezepturen hat Prof. Überall ein Forschungsprojekt angeregt und durchgeführt. „Wir konnten durch den Einsatz modernster Genanalysemethoden eine wichtige Türe zum Verständnis komplexer Mehrstoffrezepturen aufstoßen. Die tibetische Rezeptur Gabur wurde aufgrund der sehr komplexen Zusammensetzung besonders intensiv untersucht“, berichtet Prof. Überall. Von besonderer Bedeutung bei solchen Analysen ist die Aufklärung bestehender Funktionsnetzwerke innerhalb der Rezepturbestandteile. Diese lassen Rückschlüsse auf die Wirkung, aber auch auf potenzielle Nebenwirkungen zu. „Leider aber noch nicht beim Menschen, da ja ausschließlich Zellmodelle für solche zellulären Untersuchungen zur Anwendung kommen“, sagt Überall. Die Wirkung am Menschen wurde im Speziellen bei der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK), der Vorstufe der Arteriosklerose, durch schweizerische, polnische und israelische Ärzte untersucht.1 Unter anderem wurde unter „Gabur“ eine vierfache Verlängerung der schmerzfreien Gehstrecke gefunden. „Ein fundamentaler Befund“, meint Prof. Überall. In zahlreichen Einzelfallbeschreibungen ist auch eine blutverdünnende Wirkung dokumentiert.2 In einer in Bludenz durchgeführten Studie am entzündlichen Zahnfleisch (PAROSTUDIO) konnten gute antimikrobielle und antientzündliche Effekte an der Gingiva dokumentiert werden. Bei Ultramarathonläufern kam es zu einer Verbesserung der kleinen Gefäßschäden und einer hervorragenden Erholung des gesamten Organismus nach dieser Extrembelastung. Auch im Umfeld des Höhenbergsteigens im Himalaya konnten positive Effekte auf die Sauerstoffbeladung des Blutes gezeigt werden.

Ohne gesunden Darm kein gesundes Herz

Das Blutkreislaufsystem ist beim ganzheitlichen Befund einer Herzerkrankung in der TTM von exorbitanter Bedeutung. „Der tibetische Arzt schenkt dabei den großen Hohlorganen, die besonders stark durchblutet sind, wie der gesamte Intestinaltrakt und die Leber, besondere Aufmerksamkeit“, sagt Überall. Die moderne westliche Medizin hat durch die Erkenntnis der Wichtigkeit des Mikrobioms, also der Gesamtheit aller im Darmtrakt lebenden Mikroorganismen und Zooparasiten, für die Herzgesundheit ebenfalls ein neues Kapitel der Medizin aufgestoßen. „So ist jetzt gut wissenschaftlich dokumentiert, dass es neben der Darm-Hirn-Achse auch eine Darm-Herz-Hirn-Achse gibt, ja mit einigem medizinisch-biochemischen Verständnis lassen sich sogar Parallelen zwischen den Enterotypen menschlicher Darmbewohner und der Persönlichkeitstypologie in der TTM erkennen.“ Wichtige Bausteine zum Verständnis der Bedeutung der Darmgesundheit für die Herzgesundheit stammen also aus der traditionellen tibetischen Medizin. Da die TTM als wichtigste kurative Maßnahme die Nahrung nennt, ist ein Ausgleich der Energien durch gezielt verabreichte Lebensmittel der Schlüssel zur Prävention bei Herz- Kreislauf-Erkrankungen. „Die Herzgesundheit ist planbar – aus der TTM kommen dazu wichtige Hinweise“, sagt Überall. Und er nennt noch einen, in unsere Medizin eher nicht gewürdigten Heilungsansatz. Die Verwendung von abgekochtem warmem Wasser. „Jeder tibetische Arzt nennt warmes, abgekochtes Wasser, schluckweise getrunken, als oberste Medizin. Als Biochemiker ist mir dieser Gedanke sehr wichtig. Gute Löslichkeit der Nahrungsstoffe verbessert die Bioverfügbarkeit ihrer Inhaltsstoffe, aktiviert die Darmperistaltik und wirkt Stress, einem Hauptrisikofaktor bei Herzerkrankungen, entgegen.“

In einem abschließenden Satz meint Überall: „Um Akzeptanz für tibetische Rezepturen zu schaffen, ist der höchste pharmazeutische Standard bei der Herstellung notwendig, nur so kann man den Verdacht mittelalterlicher Herstellungsmethoden überwinden. Stimmt der Herstellungsprozess, lassen sich diese Rezepturen auch mit modernsten Medizintechniken auf ihre Wirksamkeitsprofile hin überprüfen. Einen kleinen Beitrag dazu konnten wir leisten und damit eine Brücke zur westlichen Medizin bauen.“

Literatur:

1 Regli C, Gorechnig E, Forsch KomplementMed 2013;20(suppl 2):22-24

2 Bommeli C, Bohnsack R, Kolb C, Erfahrungsheilkunde 2001;50(11):745–756