„Würde mir wünschen, dass die Kassen den Elfenbeinturm verlassen“

Die geplanten Primärversorgungseinheiten sollen die Zukunft der österreichischen Gesundheitsversorgung vor allem im ländlichen Raum sein. Martin Sprenger, MD, MPH, ist wissenschaftlicher Koordinator des Österreichischen Forums für Primärversorgung und Leiter des Public-Health-Lehrgangs an der MedUni Graz. Er gibt einen Überblick über die Entwicklung.

Was ist das Österreichische Forum für Primärversorgung?

Martin Sprenger: Das Forum wurde vor drei Jahren im Anschluss an den ersten Primärversorgungskongress in Graz gegründet. Es war ein spontaner Entschluss, weil so viel Interesse da war und wir gesehen haben, dass wir eine Plattform für multiprofessionelle Vernetzung schaffen müssen.

Was ist das Ziel des Forums?

Sprenger: Vernetzung. Es soll allen Primärversorgungsinteressierten ermöglichen, auf einem Stand zu bleiben und für alle Berufsgruppen offen sein.

Wie beurteilen Sie die aktuelle Entwicklung der Primärversorgungseinrichtungen in Österreich?

Sprenger: Typisch österreichisch. Es gibt unterschiedliche Regelungen, unterschiedliche Geschwindigkeiten und unterschiedliche Umsetzungen – insgesamt schätze ich die Situation eher mittelmäßig ein. Es fehlen junge gut ausgebildete Allgemeinärzte und auch Pflegekräfte, das ist ein großes Problem. Aber auch andere Berufe wie Physio- oder Ergotherapeuten müssen erst ihre Rolle in der Primärversorgung finden. Insgesamt hat man sich viel zu lange zu wenig um die Ausbildung der Generalisten für die Primärversorgung gekümmert und sich zu sehr auf die Spezialisten für den stationären Bereich konzentriert. Die Gründe sind vielfältig. Letztendlich liegt es aber auch daran, dass viele Entscheidungsträger noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen sind.

Was würden sich die Ärzte wünschen?

Sprenger: Ich würde mir wünschen, dass die Kasse ihren Elfenbeinturm verlässt und vor allem mit den jungen Medizinern redet, um zu verstehen, was sie wollen, was sie brauchen. Die Rahmenbedingungen passen in einigen Bundesländern noch nicht. Die Gebietskrankenkassen haben 30 Jahre lang geschlafen und sind teilweise immer noch nicht aufgewacht. Die Kassen sollten das System aktiv gestalten, fit machen für das 21. Jahrhundert und nicht nur verwalten.

Wie wichtig sind die Primärversorgungseinheiten aus wissenschaftlicher Sicht für die Versorgungssicherheit der Bevölkerung?

Sprenger: In einem Jahrhundert mit so einzigartigen demografischen Entwicklungen und einer steigenden Zahl chronisch Kranker müssen alle Kräfte gebündelt werden, um die Versorgung erfolgreich zu managen. Diese muss grundsätzlich multiprofessionell und interdisziplinär sein, es braucht Teamlösungen. Intrinsisch motivierte Gesundheitsberufe gibt es genug, was es dringend braucht, sind förderliche Rahmenbedingungen.