Diagnose und Therapie des hereditären Angioödems

ARZT & PRAXIS: Bei welchen Symptomen sollte man an das hereditäre Angioödem (HAE) als mögliche Ursache denken?

Univ.-Prof. Dr. Tamar Kinaciyan: Bei rezidivierenden, oft schmerzhaften Hautschwellungen an verschiedenen Hautpartien, insbesondere im Bereich des Gesichts, der Lippen und Zunge, die mehrere Tage anhalten, sollte ein HAE als Ursache in Betracht gezogen werden. Es können aber auch „wandernde Schwellungen“, die spontan verschwinden, um kurz darauf an anderen Stellen wieder aufzutreten, vorkommen. Wichtig ist, dass keine Assoziation mit einer Urtikaria vorliegt, sondern dass diese Symptome isoliert auftreten. Richtungsweisend ist dementsprechend oft das ausbleibende Ansprechen auf Antihistaminika und Kortikosteroide, die bei dieser Symptomatik klassischerweise hochdosiert i.v. verabreicht werden. Spätestens, wenn ein Patient angibt, dass die beschriebenen Symptome mit und ohne Therapie etwa gleich lange andauern, sollte man hellhörig werden.

Eine für die Diagnosestellung problematischere Symptomatik sind abdominelle Beschwerden. Dabei leiden die Patienten phasenweise über mehrere Tage an Koliken, teilweise mit zusätzlicher Schwellung des gesamten Bauchraums, die so massiv sein kann, dass man optisch an eine Schwangerschaft denken könnte. Sobald die Attacke vorbei ist, geht diese Schwellung wieder vollständig zurück. Gefürchtet sind Larynxödeme, die ohne die rasche und spezifische Therapie zum Erstickungstod führen können.

Wie gestaltet sich der „typische“ Weg bis zur Diagnose?

Der Weg zur Diagnose gleicht oft einer Odyssee, denn die Patienten können bei den aufwendigen Durchuntersuchungen komplett unauffällige Befunde zeigen. Ärztinnen und Ärzte, die mit dem Krankheitsbild des HAE nicht wirklich vertraut sind, können zur richtigen Diagnose oft wenig beitragen. Die Patienten wandern von Arzt zu Arzt und geben irgendwann die Suche nach einer Diagnose schlussendlich auf. So beobachtet man oft, dass bei manchen älteren Patienten die eigene HAE-Diagnose erst dann gestellt wird, nachdem bereits ihre Kinder diagnostiziert worden sind. Für sich selbst wären diese Betroffenen nicht mehr zum Arzt gegangen, für ihre Kinder hingegen schon.

Gerade die abdominellen Schwellungen werden häufig als akutes Abdomen fehlgedeutet, was nicht selten zu unnötigen chirurgischen Eingriffen wie Appendektomie, Cholezystektomie oder „im besten Fall“ zu einer explorativen Laparoskopie führt. Die häufigste Fehldiagnose ist jedoch die klassische mit Urtikaria assoziierte, heute auch als histaminerges Angioödem bezeichnete Form – im Gegensatz zum HAE, welches eine Bradykinin-mediierte Angioödemform darstellt.

Wie wird die Diagnose korrekterweise gestellt?

Mittlerweile sind verschiedene Formen des HAE bekannt. Die klassische Form des HAE ist leicht durch die Bestimmung der Werte von C1-Inhibitor(INH)-Antigen und -Aktivität sowie C4-Komplement im Blut diagnostizierbar, wobei entweder alle drei reduziert sind oder nur die C1-INH-Aktivität und C4. Ein im Labor festgestellter C4-Komplement-Verbrauch ist richtungsweisend, es müssen aber andere Erkrankungen wie Kollagenosen ausgeschlossen werden. Es braucht also auch bei der vergleichsweise einfachen Diagnostik des klassischen HAE eine gewisse Erfahrung. Es gibt aber auch Patienten, die zwar die klassische HAE-Symptomatik aufweisen, aber stets unauffällige Blutbefunde obiger Parameter zeigen. Bei diesen Patienten liegen andere Genmutationen als im C1-INH-Gen vor, wie wir seit dem Jahr 2000 wissen. Mittlerweile sind sechs Mutationen bekannt. Der Nachweis einer solchen Mutation sichert zwar die Diagnose, ein ausbleibender Nachweis schließt die Diagnose aber nicht aus, denn es ist davon auszugehen, dass es noch einige weitere Mutationen gibt, die ein HAE bedingen, die wir aber schlicht noch nicht kennen.

Wie geht man nach der Diagnosestellung therapeutisch vor?

Ich möchte eines vorausschicken: Als ich in den 1990er-Jahren begonnen habe, mich mit dem HAE zu beschäftigen, waren die Therapiemöglichkeiten sehr limitiert. Es gab für akute Attacken nur ein spezifisches Präparat, das i.v. verabreicht wurde. Für die Prophylaxe bei Patienten mit häufigen und schweren Attacken waren lange Zeit attenuierte Androgene wie Danazol die einzige Therapieoption. Sie bewirken eine vermehrte C1-Inhibitor-Protein-Bildung, wodurch eine relativ gute Beschwerdekontrolle erreicht werden kann, solange nicht ein Trigger wie ein akuter Infekt oder erhöhter Stress besteht, der auch unter Therapie Attacken verursachen kann. Die Gabe von Androgenen über Jahre und Jahrzehnte ist aber – ganz besonders für Frauen – problematisch. Seit uns neuere Therapeutika zur Verfügung stehen, die das HAE spezifisch behandeln, sind Androgene obsolet. Sollte einer Kollegin oder einem Kollegen ein Patient unterkommen, der noch Androgene zur HAE-Therapie erhält, ist es wichtig, ihn an ein spezialisiertes Zentrum zu überweisen, damit die Therapie entsprechend umgestellt wird. In der Therapie des HAE muss man zwischen Prophylaxe und der Akuttherapie der Attacke unterscheiden. Zur Akuttherapie stehen uns mehrere Präparate zu Verfügung. Dazu zählen C1-Esterase-Inhibitoren, die entweder aus gepooltem Plasma gewonnen (zwei verschiedene Produkte) oder rekombinant hergestellt und i.v. verabreicht werden. Das Problem bei der intravenösen Verabreichung ist allerdings, dass viele der Patienten sie im akuten Fall nicht selbst verabreichen können. Hier schafft ein s.c. zu verabreichendes Bradykinin-B2-Rezeptor-Antagonist-Präparat zur Akuttherapie Abhilfe. Bei Patienten mit schweren und häufigen Attacken geht die HAE-Behandlung zunehmend in Richtung Langzeitprophylaxe. Seit Kurzem stehen hierfür auch ein subkutaner Anti-Kallikrein-Inhibitor-Antikörper, der nur alle zwei Wochen verabreicht wird, ein zweimal pro Woche s.c. zu verabreichender C1-Esterase-Inhibitor aus gepooltem Plasma und ein oraler Kallikrein-Inhibitor, der täglich eingenommen wird, zur Verfügung. Alle drei Präparate reduzieren sowohl die Attackenhäufigkeit als auch die Schwere der Attacken. In manchen Fällen wird darunter sogar eine komplette Beschwerdefreiheit erreicht.

Unabhängig davon, wie gut die Prophylaxe funktioniert, erhält jeder Patient auch eine Notfallmedikation zur Behandlung akuter Durchbruchattacken. In den meisten Fällen verwenden wir den Bradykinin-B2-Rezeptor-Antagonisten als subkutane Fertigspritze. In der Pipeline befinden sich weitere Präparate, welche die bereits jetzt sehr gute Versorgungssituation möglicherweise weiter verbessern werden. Aufgrund der Pathophysiologie des HAE völlig ungeeignet, weil wirkungslos, sind Antihistaminika, Kortikosteroide und Adrenalin.

Wie steht es um die Versorgungssituation in Österreich?

Grundsätzlich ist die Versorgungssituation in Österreich sehr gut. An allen Universitätskliniken und auch in den Landeskrankenhäusern mit dermatologischen Abteilungen arbeiten Spezialisten, die das jeweilige Bundesland oder auch nahe gelegene Gegenden versorgen. So betreut unsere Klinik beispielsweise auch Patienten aus Wien-Umgebung und dem Burgenland. Einen guten Überblick geben die Homepages der HAE-Selbsthilfegruppen. In Österreich sind dafür traditionell die Hautkliniken als HAE-Zentren zuständig, welche die Diagnostik durchführen, die Behandlung einleiten und die Patienten auch im Zusammenspiel mit dem niedergelassenen Bereich betreuen.

Gibt es noch einen Punkt, den Sie gerne ansprechen möchten?

Ja, der Appell an meine Kolleginnen und Kollegen ist, bei entsprechenden Symptomen, die auf gängige Therapien nicht ansprechen, an das HAE als Ursache zu denken und die Betroffenen direkt an ein Zentrum zu überweisen. Ziel muss es sein, die Zeitspanne vom Erstauftreten der Symptome bis zum Einleiten einer richtigen und HAE-spezifischen Therapie so kurz wie möglich zu halten. Ein wichtiger Punkt ist auch die Untersuchung bei den Verwandten der In-dexpatienten. Dadurch ist einerseits bei einem für HAE positiven Befund eine frühe Schulung und Versorgung mit einer Notfallmedikation möglich, bevor es überhaupt zur Attackenentwicklung kommt. Andererseits kann bei bereits symptomatischen, aber noch nicht diagnostizierten Familienmitgliedern gegebenenfalls eine frühzeitige prophylaktische Therapie gestartet werden. Außerdem haben die Angehörigen bei einem negativen Befund die Gewissheit, dass sie selbst nicht erkranken und die Krankheit auch nicht auf ihre Nachkommen übertragen werden – also eine Win-win-Situation für alle.

Bis zu welchem Verwandtschaftsgrad zu den Betroffenen ist eine genetische Testung sinnvoll?

Wir untersuchen üblicherweise Großeltern, Eltern, Geschwister sowie Cousinen und Cousins 1. Grades. Wichtig ist natürlich auch die Testung der Nachkommen.

Vielen Dank für das Gespräch!