Wie selten ist selten?

ARZT & PRAXIS: Wie häufig sind seltene Lebererkrankungen?

Priv.-Doz. Dr. Albert Stättermayer: In der Europäischen Union wird eine Erkrankung als selten bezeichnet, wenn sie 1 von 2.000 bzw. 5 von 10.000 Menschen in der Allgemeinbevölkerung oder weniger betrifft. Die seltenen Lebererkrankungen bilden eine sehr heterogene Gruppe, und so sehr sich die Krankheiten untereinander unterscheiden, ist auch ihre Häufigkeit höchst unterschiedlich. So existieren relativ „häufige“ seltene Erkrankungen, wie z. B. die Autoimmunhepatitis (ca. 20:100.000) oder andere autoimmunologische Lebererkrankungen wie die primär sklerosierende Cholangitis (PBC) und die primär sklerosierende Cholangitis (PSC) (je ca. 5–15:100.000), oder auch deutlich seltenere wie Morbus Wilson (1:30.000), hereditäre cholestatische Lebererkrankungen (z. B. progressive familiäre intrahepatische Cholestasesyndrome) oder diverse seltene Stoffwechsel- und Speichererkrankungen, die die Leber mitbetreffen (z. B. LAL-D [lysosomale saure Lipasedefizienz], Glykogenspeichererkrankungen etc.).

In welchem Stadium werden seltene Lebererkrankungen typischerweise erstdiagnostiziert?

Nachdem es sich um eine derart inhomogene Krankheitsgruppe handelt, lässt sich diese Frage nicht pauschal beantworten. So beobachten wir bei der Autoimmunhepatitis in 20–25 % der Fälle eine bereits fortgeschrittene Erkrankung, beim Morbus Wilson sind es oftmals weitaus mehr in einem Bereich von 40–50 %. Ein Problem der Erwachsenenmedizin ist bei monogenetischen Erkrankungen (wie z. B. M. Wilson) mit phänotypisch milderen Verläufen, dass diese über Jahre nicht auffallen und somit erst sehr spät in einem fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert werden. Das ist insbesondere bei Krankheiten mit (pseudo-)inkompletter Penetranz der Fall. Schwerere Verlaufsformen werden meist schon im Kindesalter diagnostiziert.

Wo liegen die Herausforderungen bei der Erstdiagnose?

Ein generelles Problem liegt in dem Umstand, dass auffällige Leberwerte häufig der Ernährung bzw. dem Lebensstil zugeschrieben werden und den Betroffenen geraten wird, entsprechend weniger Alkohol zu konsumieren, sich insgesamt gesünder zu ernähren oder mehr zu bewegen, anstatt sie einer erweiterten Diagnostik zuzuführen. Wenn beispielsweise ein junger, normalgewichtiger Patient ohne Diabetes mit erhöhten Leberwerten vorstellig wird, sollte durchaus eine erweiterte Diagnostik durchgeführt werden. Besonders die nichtalkoholische Fettlebererkrankung ist eher eine Ausschlussdiagnose.

Bei welcher Befundkonstellation sollte an eine seltene Lebererkrankung gedacht werden?

Das ist generell schwierig zu sagen. Prinzipiell gilt: Wenn man nicht daran denkt, wird man sie auch nicht entdecken. Man muss also in seinem diagnostischen Portfolio seltene Erkrankungen bzw. Differenzialdiagnosen abdecken. Vielleicht ist eher eine Betrachtung aus der umgekehrten Perspektive hilfreich: Welche sind denn die häufigen Lebererkrankungen? Dazu zählen in erster Linie die nichtalkoholische und die alkoholische Fettlebererkrankung sowie die Virushepatitiden. Diese Krankheiten können glücklicherweise relativ leicht ausgeschlossen werden. Wenn hierbei keine eindeutige Diagnose gestellt werden kann, sollte natürlich eine weiterführende Diagnostik durchgeführt werden.

Macht eine Art Leberscreening Sinn?

Prinzipiell ist das bereits Teil der Gesundenvorsorgeuntersuchung, die ja die Erhebung die Transaminasen (ALT, AST) und Cholestaseparameter (GGT, ALP), die Lebersyntheseparameter (Bilirubin, Albumin, Globalgerinnungstests [INR, PTZ]) sowie das Blutbild beinhaltet, wodurch schon einiges abgedeckt ist. Viele Patienten werden bei unklarer Hepatopathie bzw. erhöhten Leberwerten an uns überwiesen. Der springende Punkt ist, etwas aus den erhobenen Parametern zu machen. Die Botschaft ist, erhöhte Leberwerte weiter abzuklären und nicht einfach – wie es nach wie vor manchmal vorkommt – einfach so zu belassen und nur auf Anpassungen im Hinblick auf Ernährung, Lebensstil und Alkoholgenuss zu verweisen.

Was im niedergelassenen Bereich bei erhöhten Leberparametern jedenfalls durchgeführt bzw. veranlasst werden sollte, ist ein abdomineller Ultraschall. Das ist eine günstige, rasche und aussagekräftige Untersuchung, die zwar bereits relativ großflächig zur Anwendung kommt, aber hier besteht sicher noch Ausbaupotenzial. Vor Zuweisung an eine hepatologische Spezialambulanz sollte eigentlich jeder Patient bereits eine Abdomensonografie erhalten haben.

Welche Rolle nehmen die Elastografie und neue Therapeutika ein?

Einen großen Stellenwert besitzt die Elastografie bei den Virushepatitiden, bei der alkoholischen Lebererkrankung und der Fettlebererkrankung, sprich, bei den häufigen Erkrankungen. Bei anderen Lebererkrankungen spielt sie in der initialen Abklärung eigentlich keine Rolle, wohingegen sie zur Verlaufskontrolle durchaus Sinn machen kann.

In Bezug auf Therapien lässt sich festhalten, dass sich einiges tut. So gibt es u. a. beim Morbus Wilson beispielsweise neue Chelat-Bildner, die aktuell in klinischer Erprobung sind. Auch Gentherapien werden erforscht, befinden sich allerdings großteils noch in frühen Forschungsstadien. Bei PBC und PSC ist ebenfalls eine Reihe neuer Substanzen in klinischer Erprobung.

Wann sollte aus dem niedergelassenen Bereich an eine Leberambulanz überwiesen werden?

Eigentlich immer. Die Therapie der Virushepatitiden – insbesondere die der Hepatitis C – muss derzeit noch in einem Zentrum verschrieben werden. Bei der häufigen Fettleber muss zwischen Niedrig- und Hochrisikopatienten unterschieden werden, wofür auch für den niedergelassenen Bereich durchaus brauchbare Tools (z. B. FIB4- und NAFLD Fibrosis Score) zur Verfügung stehen. Bei niedrigem Risiko muss nicht zwingend intramural bzw. in der Spezialambulanz therapiert werden. Man darf nicht vergessen, dass es sich um eine Erkrankung handelt, die 25–30 % der europäischen Bevölkerung betrifft.

Bei der alkoholischen Fettleber steht therapeutisch meist die Suchterkrankung im Vordergrund, die internistische Therapie erfolgt dann eher in Form einer Mitbetreuung. Die Therapie der eingangs besprochenen seltenen Erkrankungen gehört natürlich immer in den Bereich der Spezialambulanzen.

Über welches „Leber-Basiswissen“ sollte jeder Allgemeinmediziner verfügen?

Das Wichtigste ist, den „Laborblick“ in Bezug auf Lebererkrankungen zu schärfen. Wer ist ein Hochrisikopatient? Wie können die wichtigsten Laborparameter eingeordnet werden? Die korrekte Interpretation der Hepatitis-Serologie ist ebenfalls ein wesentlicher Bestandteil der extramuralen Routineabklärung. So werden an unsere Ambulanz oft auch Patienten mit einer ausgeheilten Hepatitis B überwiesen, die eigentlich keine weitergehende Abklärung benötigen.

Vielen Dank für das Gespräch!