Pädiatrie: „Ich bin nicht nur Primärversorger!“

Sie haben seit eineinhalb Jahren eine Praxis für Kinder- und Jugendheilkunde. Was hat Sie dazu bewegt, vom Spital in die Niederlassung zu wechseln?

Werner Schlegel: Ich habe auf der Kinderstation im Spital mit dem Schwerpunkt Endokrinologie gearbeitet. Für mich kam dann die Frage auf, wie es karrieretechnisch weitergehen soll: Ich hätte am AKH bleiben können und hatte auch Angebote von anderen Spitälern, unter anderem aus der Schweiz. Ich bin aber in Wien sozial verwurzelt und war nicht bereit, das aufzugeben – so viel kann Geld nicht bieten. Um meine Vorstellungen von Medizin besser verwirklichen zu können, war es logisch, dass ich selbstständig werde.

Welche konkreten Vorstellungen sind das?

Die Jugendmedizin ist ein Fach, das im Argen liegt: Die meisten Kollegen verstehen sich als Kinderärzte, aber die Jugendlichen sind jene, die von allen Patientengruppen medizinisch am schlechtesten betreut werden. Ich möchte als Kinder- und Jugendfacharzt nicht nur eine Primärversorgung bieten und bin zusätzlich Spezialist für Endokrinologie, Jugendmedizin und Sportmedizin. Der Kinderarzt ist aber oft Hausarzt für Kinder und nichts mehr. Das ist auch ein Grund, warum sich viele Kollegen nicht niederlassen wollen: Sie haben alle im Spital ein Spezialgebiet, wie Pneumologie oder Rheumatologie, und wollen in einer Praxis nicht nur Primärversorgung machen. Für meine Ordination war es wichtig, dass ich meine Spezialgebiete anbiete.

Inwieweit ist dieses Konzept aufgegangen?

Ich bin sehr zufrieden. Die Spitäler und auch Kollegen aus dem niedergelassenen Bereich weisen mir Patienten zu und ich bekomme regelmäßig endokrinologische Anfragen, denn es gibt viele Patienten, die eine Wachstumshormontherapie oder eine pubertätsinduzierende Therapie benötigen. Eine derartige zusätzliche Spezialisierung als Kassenarzt wird aber von den Krankenkassen nicht honoriert. Entweder man bietet die Zusatzleistungen, wie etwa endokrinologische Diagnostik und Beratung, privat an – oder man versucht, im Rahmen des Kassenvertrages Zeit dafür zu reservieren. Finanziell gesehen ist das aber ein Verlustgeschäft. Die Kassen bezahlen nur Routinevorgänge, nicht aber Spezialwissen und Zeit für Patienten – oder nur in sehr geringem Umfang.

Viele Jungmediziner entscheiden sich nicht für die Pädiatrie, weil die Voraussetzungen in anderen Fächern besser sind …

Ja, einer der Hauptgründe ist jener, dass das Durchschnittseinkommen eines Kinder- und Jugendfacharztes deutlich unter dem der restlichen Fachärzte liegt. Die Facharztausbildung wird nicht genügend honoriert. Es herrscht das Bild vor, dass Schnupfen bei Kindern behandelt wird – und nicht Kleinwuchs, eine fehlende Pubertätsentwicklung oder eine Schilddrüsenunterfunktion. Gleichzeitig lagern die Spitäler viele Leistungen in den niedergelassenen Bereich aus. Und das ist auch gerechtfertigt, denn wir Fachärzte im niedergelassenen Bereich können einiges übernehmen. Es sollte aber zumindest im selben Umfang bezahlt werden, wie das im Spitalsbereich geschieht.

Über den Tarifkatalog werden aber nur Basisleistungen honoriert …

Ja, es gibt nur wenige Kollegen mit Spezialverträgen, zum Beispiel für EEGs. Ein Herzultraschall hingegen zahlt keine Kasse im niedergelassenen Bereich. Dafür müsste ich die Patienten ins Spital schicken – obwohl ich weiß, dass es Kinderärzte gibt, die auf Kardiologie spezialisiert sind und das daher in ihrer Praxis machen könnten. Die Rheumaambulanz am AKH geht über, aber eine rheumatologische Abklärung wird niedergelassenen Ärzten nicht bezahlt. Ich biete in meiner Praxis dieselben Untersuchungen an wie im Spital – honoriert wird es deswegen nicht. Ich mache es trotzdem, weil ich die Ausstattung habe und es für mich geistig herausfordernd ist. In meiner Praxis behandle ich beispielsweise Patienten nach einer Chemotherapie oder Patienten mit Hämophilie, die intravenöse Medikamente benötigen. Mein Ansatz ist aus dem Aspekt der Einkommensmaximierung frustrierend – aus persönlicher Sicht ist es das, was ich in der Praxis umsetzen möchte.

Welche Leistungen zahlt die Krankenkasse in Ihrem Fach konkret?

Beispielsweise einen Harnstreifen oder das Entfernen von Ohrenschmalz, ein EKG im Rahmen einer Vorsorgeuntersuchung bei jugendlichen Sportlern hingegen wird nicht honoriert. Ich darf ein Kind nur in 10 % der Fälle pro Quartal erstmals messen und wiegen und nur 30 % regelmäßig messen und wiegen. Dabei ist es aber eigentlich wichtig, auxologische Daten zu erheben, um rechtzeitig steuernd eingreifen zu können. Man denke nur beispielsweise an Übergewicht oder Magersucht bei Jugendlichen. Bei 5 % meiner Patienten wird die ärztliche Koordinationstätigkeit bezahlt, etwa mit Jugendämtern, Schulen oder anderen Organisationen, und ein Viertel der längeren Behandlungsgespräche pro Quartal wird honoriert. Das sind alles Punkte, die nicht wichtig sind, wenn ich nur Patienten mit Husten und Heiserkeit habe, die aber eine Rolle spielen, wenn ich mich mit komplexeren Fällen auseinandersetze. Als ich meine Praxis gegründet habe, habe ich mit der Ärztekammer gesprochen, dass ich zusätzlich eine endokrinologische Abklärung bieten kann, und habe nach einem entsprechenden Verrechnungsposten gefragt. Den gibt es aber nicht. Man müsste eine generelle Position schaffen, um das Spezialwissen abzurechnen.

Was bieten Sie in Ihrer Praxis zusätzlich an?

Ich bin auf Pubertätsentwicklung spezialisiert: Die Frühpubertät bei Mädchen ab dem 8. oder 9. Lebensjahr einerseits und die Spätpubertät bei Burschen andererseits sind relativ häufig. Diese fehlenden Entwicklungen haben natürlich auch einen psychologischen Faktor. In der Jugendmedizin sind Gespräche wichtig, daher biete ich Jugendsprechstunden an – das sind übrigens die ersten Termine, die ausgebucht sind. Hier geht es um Sexualität, Pubertätsentwicklung oder Suchtverhalten. Regelmäßige Termine beim Kinder- und Jugendmediziner sind relevant, um frühzeitig Veränderungen zu bemerken. 80 % der Burschen haben beispielsweise eine Fußfehlstellung, die häufig übersehen wird. Das liegt daran, dass 16-Jährige nicht zu einem Orthopäden gehen und die Beschwerden erst Jahre später manifest werden.

Die Honorare in der Pädiatrie werden von 2018 bis 2020 jährlich jeweils um 10 % erhöht, es werden Startboni für Praxiseröffnungen und längere Öffnungszeiten vergeben. Wie beurteilen Sie diese Entscheidung?

Grundsätzlich positiv. Warten wir aber ab, ob diese Vereinbarung tatsächlich hält. Ich habe außerdem noch nichts darüber gehört, ob diese Erhöhung auch nach dem Jahr 2020 aufrecht bleibt. Es scheint sich um einen Bonus zu handeln und nicht um eine dauerhafte Erhöhung der Verrechnungspositionen. Ich habe aber auch von Kollegen gehört, dass sie eine Zusage zur Übernahme eines Kassenvertrages kurz vor der Bekanntgabe des Verhandlungsabschlusses gemacht haben. Diese Kollegen werden den Startbonus nicht erhalten. Man gibt sich also insgesamt nicht sehr großzügig.

Wie haben Sie sich auf die Selbstständigkeit vorbereitet?

Ich habe ein halbes Jahr vor der Übernahme die Vertretung meiner Vorgängerin übernommen und dabei vieles gelernt, was man in der Klinik nicht mitbekommt. Außerdem habe ich sehr gute Assistentinnen, die ich vom AKH mitgenommen habe. Für das Finanzielle habe ich eine ausgezeichnete Steuerberaterin – allerdings ist der Praxisbeginn natürlich eine Belastung, denn ich habe die Ordination komplett umgebaut. Man benötigt also finanziell schon einen längeren Atem. Die Vorbereitung vor der Praxisgründung ist sehr wichtig, das betrifft auch ein Online-Anmeldesystem sowie die Ordinationszeiten auf Vorsorge- und Kontrolltermine und Akuttermine, die nur 24 Stunden im Voraus buchbar sind. So vermeide ich, dass gesunde und kranke Kinder im Wartezimmer aufeinandertreffen.

Apropos krank: Die Gesellschaft ist derzeit recht impfmüde. Wie sind hier Ihre Erfahrungen?

Impfen ist eine der wichtigsten gesundheitspolitischen Vorsorgemaßnahmen, die wir zu wenig schätzen, weil die Folgen des Nichtimpfens nicht mehr sichtbar sind. Ich führe lange Beratungsgespräche mit Patienten und ihren Eltern, die Impfungen verweigern. Wenn ich sie nicht überzeugen kann, dann ersuche ich sie, einen anderen Arzt aufzusuchen. Ich habe Säuglinge und Patienten nach einer Chemotherapie bei mir, die keinen Impfschutz haben – da kann ich nicht riskieren, dass sie im Wartezimmer von Nichtgeimpften angesteckt werden. Ich bin es meinen Patienten schuldig, die Ansteckungsgefahr so gering wie möglich zu halten. Nicht zu impfen ist extrem fahrlässig. Ich habe Medizin nach wissenschaftlichen Kriterien studiert, die ich nicht über Bord werfen möchte.

Sie weisen bereits auf Ihrer Webseite darauf hin, dass Sie evidenzbasiert arbeiten und Homöopathie und Alternativmedizin nicht anbieten. Wie sind die Reaktionen?

Viele Kollegen haben darauf reagiert und mir zu diesen klaren Aussagen gratuliert. Einige davon trauen sich nicht, das so zu sagen. Mir ist es aber wichtig, Haltung zu zeigen und in der Praxis zu leben. Und viele Eltern kommen zu mir, die das auch honorieren. Patienten haben mich auch schon gefragt, ob ich sie homöopathisch impfen kann. Da ist Aufklärung sehr wichtig. Der Herr Hahnemann hat im 18. Jahrhundert gelebt – wenn man sich die damaligen medizinischen Möglichkeiten anschaut, dann ist die Homöopathie damals tatsächlich besser gewesen, weil sie zumindest nicht weiter geschadet hat. Als Arzt wende ich mich konkret gegen die Scharlatanerie. Leider hat die Wissenschaftlichkeit im Medizinstudium nicht immer den notwendigen Stellenwert. Allein die Kriterien, die für den Medizin-Aufnahmetest herangezogen werden: Ja, soziale Fähigkeiten sind wichtig, aber die Primärtugend ist das wissenschaftlich-analytische Denken.

Die Work-Life-Balance ist in den vergangenen Jahren für Jungärzte immer wichtiger geworden. Wie ist sie bei Ihnen?

Sie hat sich mit der Praxisgründung sehr geändert. Die Nacht- und Wochenenddienste im Spital sind durchaus belastend, ich hatte Schlafstörungen und war außerhalb meines Berufs nicht sehr belastbar. Hinzu kommt, dass ich oft nur außerhalb der Dienstzeiten zum Forschen gekommen bin. Die Forschung ist auch etwas, das mir jetzt als niedergelassener Arzt abgeht. Aber ich bin deutlich entspannter. Die Selbstständigkeit ist kein einfacher Schritt, sie hat mich aber keine schlaflosen Nächte gekostet. Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben. Ich hatte als Alternativen im Hinterkopf Angebote für fixe Stellen. Wenn die Praxis also nicht funktioniert hätte, wäre ich in ein anderes Spital gewechselt.

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