Psychosomatische Medizin – hinhören und Zusammenhänge erkennen

ARZT & PRAXIS: Frau Dr. Hasiba, was ist Ihnen besonders wichtig, was schätzen Sie an Ihrem Beruf als Allgemeinmedizinerin?

Ich bin Hausärztin am Land – im oberen Feistritztal in der bergigen Oststeiermark – und lebe und arbeite also dort, wo auch meine Patienten wohnen. Meine Schwerpunkte haben sich einerseits aus persönlichen Interessen ergeben, z. B. für psychosomatische Medizin. Andererseits war ich durch meine Patienten immer wieder gefordert, mein Wissen in bestimmten Bereichen weiter zu vertiefen. So betreue ich in meiner Praxis beispielsweise viele Kinder und habe mich in dieser Richtung entsprechend fortgebildet.
Wichtig ist mir die Integration psychosomatischer Medizin in die ganz normalen Anforderungen des Praxisalltags. Psychosomatische Medizin soll nicht zu etwas Besonderem gemacht werden, sondern integrativ gelebt und erlebt werden.
Als Hausärztin am Land hat man viele Langzeitbeziehungen zu Patienten, aber auch oft nur kurze Personenkontakte. Die Gründe, weshalb jemand in die Praxis kommt, sind immer unterschiedlich. Hier bin ich bemüht, rasch zu erkennen, was heute gefragt ist. Eine Leitmelodie von mir: „Weniger ist oft mehr.“

Was verstehen Sie unter psychosomatischer Medizin?

Wenn man es einfach herunterbrechen möchte, würde ich sagen: Es ist das Verbindende zwischen Psychischem und Somatischem, immer unter Berücksichtigung der jeweiligen Lebenswelt und des Umfelds der Patienten. So sollte die Medizin sein …

Sind viele Menschen von psychosomatischen Erkrankungen betroffen?

Die Allgemeinmedizin hat im Vergleich zu anderen Quellfächern sicher den größten Anteil an Patienten mit der psychosomatischen Medizin zuzuordnenden Beschwerden. Schätzungen gehen von ca. 30 % aus.

Was sind denn klassische psychosomatische Erkrankungen?

Psychosomatische Erkrankungen zeichnen sich, wie gesagt, immer durch das Verbindende von Psychischem und Somatischen aus, wobei eines davon meist im Vordergrund steht. Zum einen können körperliche Erkrankungen zu einer psychischen Alteration führen, z. B. wenn ein Patient mit einer plötzlich aufgetretenen schweren Erkrankung nicht zurechtkommt und sich dadurch schädigt.
Oder aber umgekehrt: Psychische Symptome können zu körperlichen Symptomen führen, die dann ihrerseits von Patienten vermehrt beachtet werden, ihnen Sorgen bereiten und Angst machen. Für Patienten steht oft die somatische Seite im Vordergrund. Es ist hier aber wichtig, das Verbindende herzustellen. Dabei geht es nicht darum, was Ursache und was Wirkung ist, sondern darum, die Zusammenhänge in einem größeren Rahmen zu sehen.
Körperliche Beschwerden – das können z. B. Schwindel oder chronische Unterbauchschmerzen sein –, die sich somatisch nicht erklären lassen, führen bei Patienten oft zu großer Sorge. Es beginnt ein Leidensweg, immer neue medizinische Untersuchungen werden von den Patienten eingefordert, teils aber auch von den Ärzten veranlasst aus Angst, etwas zu übersehen. Im Hintergrund stehen häufig Angsterkrankungen.
Man kann Psychosomatik vielleicht als Orchesterstück beschreiben, das ja auch nicht nur aus einem Ton besteht, sondern aus einem Zusammenklang vieler Töne. Mal tönt der eine, mal der andere mehr, trotzdem bleibt es ein Orchester, das zusammenspielt, in dem man weiß, dass es auch die anderen gibt. Wir Ärzte müssen hier genau hinhören, sowohl auf die einzelnen Instrumente, den Klang, die Intonation, die Melodie, die Pausen, als auch auf das Verbindende.

Wie sieht eine psychosomatische Behandlung aus?

Im Mittelpunkt einer psychosomatischen Herangehensweise stehen das ärztliche Gespräch und die Beziehung zum Patienten. Durch die richtigen Fragen können wir Patienten neue Denkräume eröffnen und gemeinsam mögliche Zusammenhänge zwischen Psychischem und Somatischem erkennen. Patienten brauchen das Gefühl von Sicherheit, verstanden und angenommen zu sein mit den für sie momentan besorgniserregenden Beschwerden und Befürchtungen. Durch Fragen und Gesprächsführung kann es gelingen, dass sie selber wieder zu Experten ihres Lebens werden. Nicht die Beruhigung hilft, sondern das Erkennen von Zusammenhängen, sodass Patienten lernen können, besser für sich selbst zu sorgen.
Natürlich gibt es auch die Möglichkeit, Medikamente mit einzubeziehen. Wie macht man das sinnvoll? Bei einer Angsterkrankung verschreibe ich z. B. nicht einfach ein entsprechendes Mittel, sondern frage den Patienten zunächst, ob er schon einmal daran gedacht hat, ein Medikament einzunehmen. Und ich frage ihn, wie dieses denn für ihn im besten Fall wirken sollte, was für ihn möglich wäre, wenn er ein solches Medikament einnehmen würde. Entscheidet er sich dafür, so ist es mir wichtig, dass er mir Rückmeldung gibt, was von dem Erhofften bzw. Erwünschten eingetroffen ist. So stelle ich mir die Einbeziehung von Medikamenten im Rahmen einer psychosomatischen Medizin vor – eingebettet in eine Kommunikation, die Erwartungen, Befürchtungen einbezieht.
Die Reaktion des Hörers auf das Gesagte gibt wertvolle Hinweise, ob sich dieser verstanden fühlt. Auch die Patienten sehen an den minimalen nonverbalen Reaktionen ihres Arztes beim Zuhören, ob sie verstanden wurden. Der Sprachwissenschafter Florian Menz meinte, wir seien uns wenig über die Wirkung unseres Redens bewusst. Ich möchte ergänzen, vermutlich auch zu wenig über mögliche Nebenwirkungen.

Wird das Thema psychosomatische Medizin in der ärztlichen Ausbildung ausreichend behandelt?

Na ja, wenn Sie da eine Psychosomatikerin fragen … Natürlich wünsche ich mir ein noch größeres Selbstverständnis für das Thema. Es sollte nicht zuerst das Somatische und dann auch noch die „psychosomatische“ Sichtweise geben, wobei damit häufig die „psychische Ursache“ gemeint ist. Diese zwei Fäden sollten miteinander laufen, wobei manchmal der eine, manchmal der andere im Vordergrund läuft, aber immer beide bedacht werden sollten.
Ich glaube schon, dass es da eine Trendwende gibt. Psychosomatik kommt im Medizinstudium wesentlich häufiger vor als früher und die Studierenden sind sehr daran interessiert.

Sie sind selbst Lehrbeauftragte an der Universität Graz …

Die Ausbildung von Studierenden ist mir ein Herzensanliegen! Zu meinen Vorlesungen zählen natürlich „Psychosomatik“, aber auch „Krisenintervention in der allgemeinmedizinischen Praxis“ und „Die Schwangere in der allgemeinmedizinischen Praxis“. Letzteres finde ich besonders spannend, weil man auf ärztlicher Seite gleich zwei Bedürfnisse zu berücksichtigen hat: das der Mutter und das des Kindes. Als dritte Ebene kommt das Schützende der Mutter für das Kind hinzu.
Weiters halte ich die Vorlesungen „Sui-zidalität in der allgemeinmedizinischen Praxis“ an der Psychiatrie sowie „Das Kind als Symptomträger in der Familie“ an der Kinderklinik, in der es um Familienmedizin in der Allgemeinmedizin geht.

Sie engagieren sich auch in verschiedenen medizinischen Fachgesellschaften, z. B. aktuell als Präsidentin der ÖGPAM …

Mein Engagement in der ÖGPAM (Österreichische Gesellschaft für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin in der Allgemeinmedizin) wurzelt sicherlich in meinem „Gewordensein“. Ich habe schon am Anfang meiner ärztlichen Laufbahn begonnen, mich im Bereich Psychosomatik fortzubilden, habe regelmäßig psychosomatische Fachtagungen besucht, eine Psychotherapieausbildung abgeschlossen und bin systemische Familientherapeutin. Die Integration psychosomatischer Medizin in den Praxisalltag war von Anfang an der Schwerpunkt meines Interesses – ein Grund auch, weswegen mir die PSY-Diplome ein großes Anliegen sind.
2013 war ich eines der Gründungsmitglieder der ÖGPAM, die ein assoziierter Zweigverein der ÖGAM ist. Ziel war und ist es, das Thema Psychosomatik in der Allgemeinmedizin aus der Selbstverständlichkeit herauszuholen und es selbstverständlich zu machen, in Berücksichtigung von Wissenschaft und Praxis. Wir möchten das Interesse für die Thematik stärken und allen Interessierten eine gemeinsame Plattform bieten. All jenen Allgemeinmedizinern, die ein ÖÄK-Diplom in psychosomatischer, psychotherapeutischer oder psychosozialer Medizin haben, wollen wir eine „Heimat“ geben und ihre Anliegen nach außen vertreten. Der erste Präsident war Dr. Bernhard Panhofer, ich fungierte damals als Vizepräsidentin, die Mitglieder des Vorstands kommen aus allen Bundesländern. Für die aktuelle Funktionsperiode durfte ich die Präsidentschaft übernehmen, eine Aufgabe, die mir viel Freude bereitet.

Welche Aktivitäten setzt die ÖGPAM und was sind Ihre Aufgaben als Präsidentin?

Eine wichtige Funktion unserer Gesellschaft ist die Unterstützung der ÖGAM bei Fragestellungen im Bereich Psychosomatik. Hier ist es meine Aufgabe, den Diskussionsprozess im Vorstand zu moderieren, zu leiten, zu begleiten. Wir bringen uns aktiv bei aktuellen Themen ein, wie z. B. der in Planung befindlichen Spezialisierung in psychosomatischer Medizin oder der psychosomatischen Grundversorgung in der Arztausbildung. Ich verfasse regelmäßig Editorials und Kommentare zu gesundheits- und gesellschaftspolitisch relevanten Fragestellungen. Auch innerhalb der Ärztekammer positionieren wir uns zum Thema psychosomatische Medizin.
Insgesamt möchten wir dem Thema die Aufmerksamkeit geben, die es verdient, und wir möchten eine wissenschaftliche Herangehensweise fördern durch Fortbildung.

Stichwort Fortbildung: Welche Aktivitäten setzt die ÖGPAM in diesem Bereich?

Hier ist an erster Stelle unsere jährlich in Salzburg stattfindende ÖGPAM-Tagung zu erwähnen, die sich bereits zu einem Fixpunkt entwickelt hat. Am 5. Mai 2018 wird die Veranstaltung zum fünften Mal stattfinden – das Motto diesmal: „Facetten des ärztlichen Gesprächs“. Während es am Vormittag mehrere spannende Vorträge zum Schwerpunktthema geben wird, werden am Nachmittag sogenannte „werk.stätten“ stattfinden, in denen sich die Teilnehmer in kleineren Gruppen verschiedenen Themen schwerpunktmäßig widmen. Ausklingen lassen wir den Tag mit einem „nach.hall“, einem netten Beisammensein bei Saxofonklängen. Das Besondere an unserer Jahrestagung ist der interkollegiale Austausch, die anregende Mehrperspektivität. Das schätze ich sehr.
Im kommenden Jahr wollen wir als Gesellschaft auch einen Schwerpunkt auf die Vernetzung mit psychosomatischen Fachgesellschaften anderer Quellfächer legen. Angedacht wäre beispielsweise die Organisation gemeinsamer Veranstaltungen.
Auch im Bereich Psychotraumatologie sind Wochenendseminare geplant.

Sind viele Ärzte an Fortbildungen zu Psychosomatik bzw. psychosomatischer Medizin interessiert?

Ja, durchaus. Veranstaltungen im Bereich psychosomatische Medizin machen zwar nur einen kleinen Teil des insgesamt sehr großen Fortbildungsangebots aus, aber diejenigen, die sich für das Thema interessieren, wählen die Veranstaltungen gezielt für sich und sind im Nachhinein meist sehr zufrieden über ihre Wahl. Viele kommen im nächsten Jahr wieder.
Unsere Tagungen zum Thema psychosomatische Medizin sind so geprägt, dass konkret an psychosomatischer Medizin interessierte Kollegen kommen – wir erwarten uns hier nicht ein paar Hundert Teilnehmer. Wir beschränken uns auf das Zielpublikum allgemeinmedizinischer Kollegen und bereiten sehr spezifisch Themen auf, die für unsere Berufsgruppe relevant und in den Alltag integrierbar sind. Naturgemäß größer sind interdisziplinär organisierte Veranstaltungen.

Brauchen Allgemeinmediziner eine spezielle Art der Fortbildung?

Definitiv ja, denn sie haben ja auch eine besondere Aufgabe in der Praxis. Natürlich können und sollen sich Allgemeinmediziner in den verschiedensten Spezialgebieten fortbilden und es spricht meiner Meinung nach auch nichts dagegen, dass die Vortragenden Spezialisten aus dem jeweiligen Fachgebiet sind. Das ergibt sich meist automatisch. Trotzdem ist es wichtig, dass der oder die Vortragende das für die Allgemeinmedizin Spezifische, das Relevante besonders berücksichtigt. Das Fachwissen sollte zu einer Erweiterung des allgemeinmedizinischen Wissens führen. Da ist Kenntnis der Verbindungsstellen notwendig. Ist das der Fall, wird die Fortbildung als gelungen bewertet werden.
„Von oben herunter und am Praxisalltag vorbei“ ist für uns Allgemeinmediziner dagegen wenig sinnvoll. Wünschenswert wäre ein fruchtbarer Dialog zwischen Spezialisten und Generalisten, kein Gegeneinander, sondern ein voneinander Lernen und einander Nützen. Von Vorteil ist sicher, wenn die Moderatoren, also die Vorsitzenden, Allgemeinmediziner sind, weil diese in der Diskussion besser Rücksicht auf die Bedürfnisse der allgemeinmedizinischen Kollegenschaft nehmen können.

Welche Art der Fortbildung bevorzugen Sie persönlich?

Ich bilde mich zum einen dadurch fort, dass ich regelmäßig selbst Vorträge halte. In der Vorbereitung begebe ich mich auf Literatursuche, schaue mir an, was andere Kolleginnen und Kollegen zu einem bestimmten Thema meinen, und verbinde das dann mit meinen eigenen Erfahrungen und meinem Wissen. Nachdem ich einen Vortrag zu einem bestimmten Thema vorbereitet habe, bin ich ziemlich fit darin. Ich lerne selber enorm viel dabei.
Zum anderen besuche ich natürlich auch verschiedene Fortbildungsveranstaltungen. Diese wähle ich sehr gezielt aus. Entweder interessiert mich ein bestimmter Referent bzw. eine Referentin, die ich sehr schätze, deren Vorträge und Meinung zu einem bestimmten Thema ich hören möchte. Oder ich wähle nach Thematik aus, überlege mir, in welchem Bereich ich mein Wissen auffrischen oder vertiefen möchte. Das können sowohl große nationale und internationale Kongresse als auch kleine Veranstaltungen auf Bezirksebene sein.
Auch die interkollegiale Fortbildung in Form von Balint-Gruppen ist mir sehr wichtig. Ich bin Leiterin einer seit 30 Jahren bestehenden Balint-Gruppe, die sich alle vier Wochen trifft, um Patientengeschichten, die uns am Herzen liegen und uns bewegen, miteinander zu besprechen – sowohl auf fachlicher als auch auf der Beziehungsebene. Das ist eine sehr spannende Art der Fortbildung und gleichzeitig auch eine Selbstfürsorge (Stichwort: self care) für uns als teilnehmende Ärztinnen und Ärzte.
Nicht unerwähnt lassen möchte ich das Lesen von Zeitungen, Fachzeitschriften, wissenschaftlichen Publikationen sowie die Recherche im Alltag für und durch Patienten. Das sind für mich ebenfalls wichtige alltägliche Bestandteile der Fortbildung.