Rheumatologie – über den Tellerrand blicken | „Weg von den Hierarchien, hin zu den Teams“

ARZT & PRAXIS: Erkrankungen des Muskuloskelettalsystems liegen nach Atemwegserkrankungen und Infektionen auf Platz 3 der Krankenstandsursachen. Dem stehen in Österreich nur etwa 200 Rheumatologen gegenüber. Wie kann sich das ausgehen und wann ist eine Behandlung durch einen Facharzt für Rheumatologie tatsächlich notwendig?

Prim. Univ.-Prof. Dr. Kurt Redlich: In der ursprünglichen griechischen Definition bedeutet der Begriff „Rheuma“ ziehende Schmerzen in Gelenken, Muskeln und gelenksnahen Strukturen. Nach dieser etwas unscharfen Definition haben in Österreich 2 bis 3 Millionen Menschen Rheuma. Die Herausforderung besteht darin, die Patienten richtig zuzuordnen und an jener Stelle zu versorgen, bei der sie am besten aufgehoben sind. Viele Betroffene erhalten eine ausreichend gute Versorgung beim praktischen Arzt und beim Orthopäden sowie durch physikalische Therapie und Bewegung. Und dann gibt es noch die kleine Gruppe von Patienten, die zwar dieselben Symptome zeigen, deren Ursache jedoch in einer entzündlichen rheumatischen Erkrankung liegt. Diese Patienten brauchen unter Umständen eine hochkomplexe und nebenwirkungsbehaftete Behandlung und sollten daher vom Spezialisten betreut werden.

 

 

Wie stellen wir sicher, aus dieser großen Anzahl an muskuloskelettalen Schmerzpatienten jene herauszufiltern, die einen Spezialisten für Rheumatologie brauchen?

Das ist oft gar nicht so einfach und bedarf einer entsprechenden Ausbildung. Als ÖGR ist es uns daher auch ein wichtiges Anliegen, die Rheumatologie stärker in die universitäre Ausbildung hineinzubringen. Hierfür haben wir als Partner die rheumatologischen Ordinariate an den Medizinischen Universitäten Graz und Wien. Bei der postgraduellen Ausbildung der praktischen Ärzte muss außerdem berücksichtigt werden, dass die Rheumatologie nicht auf der Station erlernt werden kann. In Hietzing achten wir daher darauf, dass die jungen Kollegen viel Zeit in der Rheumaambulanz verbringen und dort die Patienten gemeinsam mit uns Fachärzten untersuchen.
Die Rheumatologie ist ein sehr klinisches Fach. Mit ein bisschen Übertreibung könnte man sogar sagen, dass man zur Diagnose nicht viel mehr braucht als Augen, Finger und Mund. Umgekehrt bedeutet das, dass man durch die Anamnese und die klinische Untersuchung bereits sehr viel über den Patienten in Erfahrung bringen kann. Das braucht aber natürlich Zeit, die in unserem heutigen System – vor allem im niedergelassenen Bereich – nicht ausreichend honoriert wird.

 

 

Ist dies einer der Gründe, warum es so wenige niedergelassene Rheumatologen gibt? In Wien sind es gerade einmal zwei Kassen-Fachärztinnen und auch in den anderen Bundesländern ist die Situation eine ähnliche …

Es ist kaum möglich, einen komplexen Patienten mit einer entzündlich-rheumatischen Erkrankung in weniger als 20 Minuten gut zu betreuen und zu beraten. Rheumatologen arbeiten vorwiegend in Spitälern, in Privat- oder Wahlarztordinationen, aber nur sehr selten als Kassenärzte. Jene, die als reine Kassenärzte tätig sind, müssen, um sich finanziell erhalten zu können, allgemeininternistische Patienten mitbetreuen, für die es eine bessere Leistungserstattung gibt.

 

 

Sowohl im AKH Wien als auch bei Ihnen in Hietzing wurde an der Abteilung für Rheumatologie eine Akutbegutachtungsambulanz etabliert. Welchen Zweck erfüllt diese?

Mit der Akutbegutachtungsambulanz haben wir ein Tool geschaffen, mit dessen Hilfe die Patienten zeitnah und rasch an die richtige Stelle zugewiesen werden können. Jene Patienten, die aus dem niedergelassenen Bereich zur Abklärung überwiesen werden, erhalten rasch eine Erstbegutachtung, um festzustellen, ob der Grund ihrer muskuloskelettalen Schmerzen in einer entzündlichen rheumatischen Erkrankung liegen könnte. Ist dies wahrscheinlich, erfolgt die Weiterbetreuung im Krankenhaus. Steckt jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit kein entzündliches Geschehen dahinter, erfolgt eine Therapieempfehlung für die Weiterbetreuung im niedergelassenen Bereich. Ziel der Akutbegutachtungsambulanz ist es, den Betroffenen rasch einer für seine Situation adäquaten Behandlung zuzuführen und damit lange Wartezeiten zu vermeiden. Umgekehrt ist es wenig sinnvoll, dass ein Patient lange warten muss auf eine Therapie, die er im niedergelassenen Bereich genauso gut und sogar schneller bekommt.

Worin liegen die Vorteile einer Weiterbetreuung an einem Rheumazentrum bei Vorliegen von entzündlichen rheumatischen Erkrankungen?

Die Rheumatologie ist in sich noch einmal stark spezialisiert, und genau hier liegt der Vorteil von Rheumazentren, die den engen Austausch zwischen den einzelnen Spezialisten ermöglichen. Gleichzeitig kann die Rheumatologie so viele verschiedene Organe betreffen, dass es ein breites internistisches Wissen braucht. Wir haben es zum Teil mit komplexen Krankheitsbildern zu tun – denken Sie etwa an die Vaskulitiden oder an die Autoimmunkollagenosen. Die Betroffenen haben häufig auch Probleme mit der Niere, dem Zentralnervensystem, dem Herz oder der Lunge. Obwohl wir Fachärzte für Rheumatologie sind, müssen wir also in der Lage sein, über den Tellerrand hinauszuschauen. Wir müssen etwas von Infektiologie, Pneumologie, Nephrologie, Gastroenterologie usw. verstehen – aber auch über die internen Fächer hinaus, wie Haut, Augen und Radiologie. Da profitieren wir natürlich von der engen Zusammenarbeit mit den anderen Fachabteilungen im Krankenhaus. Die Rheumatologie – und das ist auch das Schöne daran – ist ein irrsinnig breites Fach.

Wie meinen Sie, muss die Ausbildung zum Rheumatologen aussehen, damit dieses breite Spektrum abgedeckt werden kann?

Mit der neuen Ausbildungsverordnung von 2015 wurde die Ausbildungszeit der internistischen Sonderfächer auf sechs Jahre reduziert. Wir stehen also vor der Herausforderung, alle internistischen wie auch die spezifischen rheumatologischen Inhalte in dieser Zeit abzudecken. Gleichzeitig hat die Komplexität zugenommen. Als ich begonnen habe, gab es inklusive Kortison gerade einmal fünf spezielle Therapien für entzündlich-rheumatische Erkrankungen. Heute stehen uns allein bei den Biologika mehr als zehn Substanzen zur Verfügung. Wir müssen daher versuchen, die Ausbildungsinhalte zu konzentrieren. Da hilft es natürlich, dass viele administrative Tätigkeiten, aber auch Blutabnahmen mittlerweile an die Pflege übergegangen sind und die jungen auszubildenden Kollegen nicht mehr durch diese Arbeiten blockiert werden.
Damit gute Ausbildung stattfinden kann, muss diese in den Versorgungsalltag eingebaut werden. Was insgesamt leider noch zu wenig verstanden wird, ist, dass Ausbildung Zeit kostet, wenn man sie ernst nimmt. Wenn ich an meiner Abteilung eine neue Ausbildungsstelle besetze, habe ich nicht eine Vollzeitkraft mehr, sondern verliere in Wahrheit vorerst einen halben Mitarbeiter an die Ausbildungsarbeit.

 

 

Mit welchen Angeboten fördert die ÖGR die rheumatologische Aus- und Weiterbildung?

Die ÖGR hat dem Thema Ausbildung einen eigenen Arbeitskreis gewidmet, der von Univ.-Prof. Dr. Klaus Machold geleitet wird. Es wurden mittlerweile einige Initiativen umgesetzt, wie z. B. die ÖGR Summer School, die vergangenen Juli bereits zum dritten Mal stattgefunden hat. Hier haben Medizinstudenten drei Tage lang die Gelegenheit, von Rheumatologen mit langjähriger Erfahrung theoretische und praktische Inhalte zu erlernen. Diese Initiative soll die geringe Abdeckung des Faches in den universitären Curricula kompensieren.
Aktuell arbeiten wir an einem ganz ähnlichen Format für jene Kollegen, die sich bereits in der Ausbildung zum Facharzt für Innere Medizin und Rheumatologie befinden.
Eine weitere Möglichkeit für alle interessierten Ärzte ist natürlich unsere Jahrestagung, die gerade erst wieder in Wien stattgefunden hat, aber auch die Rheumatage der Bundesländer, bei denen einmal im Jahr Neues und Praxisrelevantes aus der Rheumatologie vermittelt wird. Die Herausforderung bei der Weiterbildung besteht jeweils darin, den Teilnehmern genügend, aber nicht zu viele Inhalte zu präsentieren. Auch bin ich kein großer Fan von Frontalvorträgen.

Wie ginge Weiterbildung Ihrer Meinung nach besser?

Wenn Sie mich fragen, brauchen wir mehr qualitative Gesprächs- und Diskussionskultur mit unseren Kollegen anstelle reiner Vorträge – weg von den strengen Hierarchien, hin zu den Teams. Ich liebe es, in den Morgenbesprechungen mit den Kollegen Fälle zu diskutieren, nicht nur, weil wir dabei sehr offen sind, sondern weil wir uns auch erlauben, Dinge nicht zu wissen und nachzufragen.
Unter diesem Aspekt hat unsere Abteilung erst vor wenigen Wochen eine Veranstaltung mit dem Titel „Versorgung neu denken“ für praktische Ärzte abgehalten. Bei dieser Veranstaltung haben wir uns auf zehnminütige Impulsvorträge zum Einstieg beschränkt und uns im Anschluss ausschließlich auf die praxisrelevanten Aspekte der jeweiligen rheumatologischen Erkrankung – rheumatoide Arthritis, Psoriasis-Arthritis, Spondyloarthritis etc. – konzentriert.

Wie wichtig ist eine gute Zusammenarbeit mit den Allgemeinmedizinern?

Nicht nur bei der Erstzuordnung von rheumatologischen Patienten, sondern auch bei der Weiterbegleitung sind die Hausärzte wichtige Partner – das reicht vom Nebenwirkungsmanagement über die Compliance bis hin zur Vermeidung bzw. zum Management von Komorbiditäten. Rheumatologische Patienten haben ein signifikant höheres Risiko für Herz- Kreislauf-Erkrankungen, und dem gilt es entsprechend entgegenzuwirken. Das schaffen wir in unserer Rheumaambulanz nicht alleine – gerade bei der Betreuung von chronisch kranken Patienten sind wir auf unsere Kollegen im niedergelassenen Bereich angewiesen. Als ÖGR versuchen wir daher auch immer, bei den Ärztetagen in Grado mit rheumatologischen Themen vertreten zu sein.

Mit welchen Maßnahmen glauben Sie, könnte die Patientenversorgung noch weiter optimiert werden?

Hier gibt es beispielsweise den interessanten Ansatz, die Pflege stärker in die Patientenbetreuung miteinzubeziehen. Das geschieht auch jetzt zum Teil schon durch speziell ausgebildete Rheuma-Nurses. Theoretisch wäre das aber auch in niedergelassenen Zentren möglich.

Welchen Benefit erwartet man sich dadurch für die Patienten?

Es gibt hier ein schönes Beispiel zur Gicht, das ich Ihnen gerne schildern möchte: In einer Studie wurde der Therapieerfolg von Gichtpatienten, die von speziellen Gicht-Nurses betreut wurden, verglichen mit dem jener Patienten, die nach der Diagnosestellung weiterhin „nur“ ihren Arzt konsultiert hatten. Wir wissen, dass bei der Therapie der Gicht die Harnsäuresenkung essenziell ist. Der Behandlungserfolg ist daher einerseits von der Bereitschaft zur Lebensstiladaption und andererseits von der regelmäßigen Medikamenteneinnahme abhängig. In besagter Studie konnte gezeigt werden, dass Patienten, die von der Pflege engmaschig betreut, erinnert und motiviert wurden, eine niedrigere Harnsäure, weniger Gichtanfälle und Tophi aufwiesen als die Vergleichsgruppe. Wenn man sich die Anzahl durch Gicht bedingten Krankenstandstage ansieht, sind das durchaus Erfolgsmodelle, die sich ökonomisch rentieren.

Wie halten Sie sich selbst auf dem Laufenden?

Das passiert in erster Linie durch meine Vortragstätigkeit. Bei der Vorbereitung lerne ich immer am meisten – und die dafür notwendigen Recherchen machen mir großen Spaß.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Fotos: MedMedia Verlag – Oliver Miller-Aichholz