ARZT & PRAXIS: Viele österreichische Medien titelten im Winter 2021/22, dass nach dem Coronavirus nun ein „neues Virus“ bedrohlich werden würde. Wie neu war RSV wirklich und inwiefern war es zu dieser Zeit besonders gefährlich?
Univ.-Prof. Dr. Reinhold Kerbl: RSV ist alles andere als neu – wir beschäftigen uns seit Jahrzehnten damit, in der Pädiatrie ganz besonders. Es handelt sich dabei um ein einsträngiges RNA-Virus aus der Familie Pneumoviridae. In der Klinik begegnen uns die zwei häufigsten Subtypen A und B, die sich in ihrer Dominanz typischerweise saisonal abwechseln. Gefährlich war die Situation im Winter 2021/22 und dann insbesondere 2022/23, weil RSV während der Pandemie fast völlig verschwunden war. Als die Schutzmaßnahmen wegfielen, traf es deutlich mehr Kinder gleichzeitig – ich nenne das „Catch-up“-Infektionen. Das hat insbesondere 2022/23 zu einer Welle erheblichen Ausmaßes geführt, die unsere Kinderstationen mit einer Bettenauslastung von bis zu 130 % an ihre Grenzen brachte.
Wodurch fällt eine RSV-Infektion klinisch auf und welche Altersgruppen sind am stärksten betroffen?
Beim Säugling zeigen sich neben relativ unspezifischen Symptomen wie Fieber und Husten insbesondere Entzündungen der unteren Atemwege, bevorzugt in Form einer Bronchiolitis. Diese führt zu ausgeprägten Atembeschwerden. Daneben kommen aber auch RSV-Pneumonien gar nicht selten vor.
Besonders gefährdet sind Kinder im ersten Lebensjahr. 79 % der nach RSV-Infektionen hospitalisierten Kinder sind jünger als 12 Monate, 13 % sind Frühgeborene. Interessant ist, dass 87 % der betroffenen Kinder keine Vorerkrankungen haben. Es können also auch bis dahin völlig gesunde Säuglinge schwer erkranken. Bei älteren Erwachsenen sehen wir vor allem bei chronischen Grunderkrankungen schwere Verläufe.
Wie hat sich die Epidemiologie in den letzten Jahren verändert?
Vor der Pandemie haben wir RSV-Gipfel in der Regel regelmäßig von Jänner bis März erlebt. Durch die Lockdowns blieb die Welle in der Saison 2020/21 aus. In der Saison 2021/22 konnten wir dann eine Verschiebung dieses Rhythmus erkennen und erlebten den Gipfel bereits in den Monaten September bis November. 2022/23 hat sich der RSV-Gipfel dann wieder nach hinten in den November und Dezember verschoben. In dieser Zeit erreichte Österreich einen RSV-Höhepunkt. Mitte Dezember waren 650 belegte pädiatrische Betten aufgrund respiratorischer Infektionen belegt, etwa die Hälfte davon durch RSV. Mittlerweile hat sich die Saisonalität wieder stabilisiert und die Infektionsgipfel liegen jetzt wieder im gewohnten Zeitfenster Jänner bis März.
Welche ökonomische Belastung entsteht durch RSV?
RSV verursacht enorme Kosten. Allein die direkten Spitalskosten liegen bei rund 2 Mio. Euro jährlich, mit indirekten Kosten summiert sich das auf ca. 3,5 Mio. Euro. Zusätzliche Kosten durch Arbeitsausfälle, Pflegeurlaube, Fahrt-kosten und dergleichen sind da noch gar nicht berücksichtigt.
Welche neuen Möglichkeiten zur Prävention gibt es?
Für Säuglinge empfiehlt die ÖGKJ primär den monoklonalen Antikörper Nirsevimab, der gegen das F-Glykoprotein des RSV gerichtet ist. Dieses Protein ist entscheidend für die Fusion des Virus mit der Wirtszelle. Die Blockade verhindert die Infektion und damit die Ausbreitung des Virus. Studien und Real-World-Daten zeigen eine gute Wirksamkeit: 83 % weniger RSV-bedingte Hospitalisierungen, 81 % weniger Intensivaufnahmen und 75 % weniger Infektionen der unteren Atemwege.
Bereits vor der Zulassung von Nirsevimab existierte mit Palivizumab ein monoklonaler Antikörper, der wesentlich kürzer wirksam ist und nur bei Risikokonstellationen verabreicht wurde. Neben diesen „Kinderimpfungen“ gibt es noch eine maternale Impfung, bei der von der Mutter Antikörper gebildet werden, die diaplazentar auf das Kind übertragen werden.
Es handelt sich bei Nirsevimab also um eine Impfung im Sinne einer passiven Immunisierung?
Ja, es werden bereits fertige, rekombinante Antikörper verabreicht. Das heißt, es gibt einen sofortigen Schutz. Durch Modifikation am Fc-Teil des IgG-Antikörpers wird Nirsevimab langsamer abgebaut und wirkt ca. 5–6 Monate, womit die RSV-Saison gut abgedeckt ist.
Wie wird Nirsevimab laut Konsensuspapier dosiert?
Die Dosierung ist gewichtsabhängig und erfolgt nach Gewicht bzw. individuellem Risiko:
Die Verabreichung erfolgt entweder direkt auf den Geburtenstationen (für Kinder, die während der RSV-Saison geboren werden) oder vor Beginn der Saison über die Kinderärzt:innen und Allgemeinmediziner:innen. Damit ist die Integration in bestehende Impfstrukturen unkompliziert.
Wie gestaltete sich die Einführung von Nirsevimab in Österreich?
Nach einigem Zögern und politischen Diskussionen zur Finanzierung wurde Nirsevimab ab Dezember 2024 österreichweit verfügbar. Dank einer dann sehr raschen Organisation konnte eine flächendeckende Verfügbarkeit sichergestellt werden. Besonders in Regionen mit guter kinderfachärztlicher Versorgung haben wir auch sehr gute Impfquoten erreicht.
Welche praktischen Erfahrungen liegen inzwischen vor?
Die Daten aus der Steiermark zeigen Impfraten zwischen 70 % und 80 %, in Graz sogar noch etwas höher. Im Österreich-Durchschnitt lag die Inanspruchnahme allerdings in der Saison 2024/25 (noch) niedriger – ein Hinweis darauf, dass Information, Logistik und Aufklärung regional noch verbessert werden müssen. Dennoch haben wir bereits in der letzten Saison einen klaren Rückgang der Hospitalisierungen erlebt.
Im Rahmen der Jahrestagung hat auch Dr.in Irene Rivero Calle aus Santiago de Compostela (Galizien) ihre Erfahrungen aus Spanien präsentiert. Welche Erkenntnisse bringen diese Daten?
Spanien – genauer gesagt, Galizien – war die erste Region, die Nirsevimab flächendeckend eingesetzt hat. Die Impfkampagne startete im September 2023 und erreichte eine beeindruckende Durchimpfungsrate von über 94 %, bei Risikogruppen sogar 97 %. Die Effekte waren enorm, mit bis zu 90 % weniger Hospitalisierungen und Intensivaufnahmen, 80 % weniger RSV-bedingten Bronchitiden in der Primärversorgung und 67 % weniger Notfallbesuchen. Diese Daten bestätigen, dass eine konsequente Umsetzung nicht nur einzelne Kinder schützt, sondern das gesamte Gesundheitssystem entlastet. Es gibt in Österreich also durchaus noch Luft nach oben.
Gibt es Bedenken hinsichtlich Nebenwirkungen oder Kombinationen mit anderen Impfungen?
Nebenwirkungen sind extrem selten, in Österreich wurden bislang keine relevanten Ereignisse dokumentiert. Zudem lässt sich Nirsevimab problemlos mit anderen Impfungen kombinieren, z. B. mit der Sechsfachimpfung oder der Influenza-Impfung.
Was sind die größten Herausforderungen für die Zukunft?
Ein großes Thema ist die Dokumentation im elektronischen Impfpass. Derzeit erfassen viele Kliniken die Verabreichungen noch in Excel-Listen, weil Neugeborene keine Sozialversicherungsnummer haben. Hier braucht es eine gesundheitspolitische Lösung. Für die kommende Saison 2025/26 sind ansonsten die Vorbereitungen aber sehr weit fortgeschritten. Das Konsensuspapier* der ÖGKJ ist schon veröffentlicht, der Impfstoff bereits eingekauft und die Finanzierung gesichert. Wir erwarten eine Beteiligungsrate von über 80 %, womit sich jährlich 600–1.000 Hospitalisierungen vermeiden lassen.
Vielen Dank für das Gespräch!