„Wir sind Primärversorger und Spezialisten gleichermaßen“

Der Ärztemangel scheint auch in der Pädiatrie angekommen zu sein – woran liegt das?

DDr. Peter Voitl: In der Pädiatrie betrifft der Ärztemangel hauptsächlich den versorgungswirksamen, also den Kassen- und Krankenhausbereich. Wahlärzte nehmen zu und Privatspitäler bieten immer mehr Leistungen in der Pädiatrie an. In den öffentlichen Spitälern hingegen bleiben Oberarztstellen unbesetzt und auch im niedergelassenen Bereich sind in Wien 10 von 90 Kassenstellen nicht besetzt. Dieses Phänomen zieht sich durch alle Bundesländer: Für etwa 10 % der Kassenstellen findet sich kein Kinderarzt. Wir haben daher zurzeit einen selektiven und keinen generellen Mangel.
Das Interesse an der Ausbildung ist weiterhin da. Die meisten Primarii haben nach wie vor lange Wartelisten von Kolleginnen und Kollegen, die Kinderärztin/-arzt werden wollen. Das Interesse, Vollzeit im Spital zu arbeiten oder alleine eine Ordination zu führen, ist jedoch deutlich gesunken. Die Kollegen wollen eine akzeptable Work-Life-Balance und gehen dann eben bevorzugt in die Wahlarztpraxis oder in Privatspitäler. Oder sie machen Vertretungen. Aber aus der versorgungswirksamen Situation verschwinden sie zunehmend. Dieser Zustand fördert natürlich eine Zwei-Klassen-Medizin, die sich ohnehin bereits durch alle Versorgungsstrukturen zieht.

Was bedingt eine gute ­Work-Life-Balance?

Die weitgehend vorgegebenen Arbeitsstrukturen machen eine niedergelassene Einzelordination für viele Kollegen unattraktiv. In Wien hat man bereits gegengesteuert und die Honorare angehoben sowie auch die Arbeitsbedingungen für die Kolleginnen und Kollegen verbessert. Diese entscheiden sich aber nicht aus rein finanziellen Gründen für die Wahlarztpraxis, sondern in erster Linie deshalb, weil sie dort die Arbeitsbedingungen selbst gestalten können – allerdings auch mit allen Risiken, die damit verbunden sind. Wir Kassenärzte haben sehr strikte Vorgaben zu erfüllen, denen man als Wahlarzt entgehen kann. Es wäre beispielsweise hilfreich, wenn man in der Grippezeit mit einem zweiten Kollegen parallel arbeiten dürfte, um den Patientenansturm zu bewältigen. Das ist im Kassenvertrag nicht vorgesehen und auch die Möglichkeit, sich vertreten zu lassen, ist limitiert. Wahlärzte hingegen müssen das unternehmerische Risiko alleine tragen. Die Gruppenpraxis bietet eine Ausweichmöglichkeit, ist aber nicht leicht umzusetzen, weil man Partner braucht, denen man wirklich vertraut. Finanziell hängt man da sehr eng zusammen. Wir arbeiten hier zum Beispiel in einer Personengesellschaft mit vier Kassenverträgen.

Was ist notwendig, um die Situation zu verbessern?

Wir Kinderärzte sind in Wahrheit Primärversorger und Spezialisten gleichermaßen. Wir sind die erste Anlaufstelle für unsere pädiatrischen Patienten und es ist wichtig, dass Primärversorgungseinheiten im Sinne von eigenen pädiatrischen Primärversorgungseinheiten gestaltet werden können. Dies ist im Gesetz ja bereits optional vorgesehen. Unsere Gruppenpraxis hat sieben Tage die Woche geöffnet. Wir haben Logopäden, Diätologen, Psychologen, Diplomkrankenschwestern und Kinderchirurgen mit „on board“ und können so die Wege für die Patienten sehr kurz und effektiv gestalten. Das ist vor allem für Kinder mit komplexen und chronischen Erkrankungen äußerst hilfreich. In Wahrheit sind wir bereits so etwas wie ein pädiatrisches Primärversorgungszentrum, und das ist für alle Beteiligen ein Gewinn: Der Patient erhält ein breites Angebot, ohne dass er weite Wege zurücklegen muss, und die Kollegen können sich austauschen, sich gegenseitig vertreten und dürfen auch einmal krank werden. Und auch für die Krankenkassen rechnet es sich: Wir verursachen nachweislich weniger Kosten im System als eine durchschnittliche Einzelordination. Solche Konstellationen heben auch die Attraktivität der Tätigkeit im Rahmen einer Kassenstelle.

Stichwort Grippewelle: Wie nehmen Sie die Impfbereitschaft Ihrer Patienten wahr?

Die Durchimpfungsraten bei Kindern gegen Influenza sind nach wie vor enttäuschend und liegen bei rund 10 %. Etwa 2 % unserer Patienten sind echte Impfgegner. Das ist eine konstante Zahl seit vielen Jahren – und die können wir nicht überzeugen. Dahinter stecken oft irrationale Gründe und Ängste, an die man nicht herankommt. Das muss man leider akzeptieren und versuchen, auch diese Patienten bestmöglich zu betreuen. Ein weitaus größerer Teil, etwa 10 %, sind Impfskeptiker. Diese Personen lassen sich überzeugen, wenn man die richtigen Argumente bringt, und vor allem, wenn man selbst überzeugt ist.
Informationen zum Impfen zu liefern, ist wichtig, wobei es weniger darum geht, zu diskutieren oder zu überreden, sondern klare Empfehlungen abzugeben. So wie ein Chirurg, der eine Blinddarmoperation empfiehlt, und der Patient dieser Empfehlung folgt. Genau so sollten auch wir Impfungen den Patienten gegenüber kommunizieren. Ich glaube nicht, dass man hier mit Details argumentieren und einen hohen Zeitaufwand betreiben sollte, denn die Diskussion ist in Wahrheit längst abgeschlossen. Es gibt den österreichischen Impfplan, der einmal im Jahr aktualisiert und bewertet wird und ganz genaue Empfehlungen enthält, welche Impfungen wann empfohlen oder eben auch nicht empfohlen werden.
Mindestens ebenso wichtig ist der Impfschutz des Gesundheitspersonals. Für mich ist die Vorstellung unerträglich, dass Eltern mit einem Frühgeborenen wegen eines banalen Problems in die Ordination kommen und dieses Frühgeborene dann womöglich mit einer Influenza angesteckt wird. Hier treffen wir alle Maßnahmen, die möglich sind, um das zu vermeiden.

In Ihrer Ordination gibt es also eine Impfpflicht für das Personal?

Es gibt eine selektive Impfpflicht für all jene Krankheiten, die Patienten gefährden können, also insbesondere Masern, Keuchhusten, Influenza und Varizellen. Das ist auch im Dienstvertrag so festgehalten. Ob ein Mitarbeiter gegen FSME geimpft ist oder nicht, ist uns nicht so wichtig, denn das schützt ja nur ihn selbst vor einer Ansteckung und nicht die Patienten. Interessanterweise wird gerade FSME in der Bevölkerung extrem gut angenommen. Wir haben Kinder, die den Wiener Gürtel nie verlassen, deren Eltern aber trotzdem die FSME-Impfung nachfragen. Die FSME-Impfung ist ein traditionell österreichisches Produkt, das sehr gut akzeptiert wird. Und sicher trägt auch das abschreckende Bild des Spinnentiers dazu bei.

Wie sieht es mit den Auffrischungs­impfungen aus?

Wir haben in unserer Ordination ein Erinnerungssystem, das gut funktioniert. Die Patienten bekommen einen ausgedruckten Plan mit, in dem die genauen Termine für die nächsten Impfungen festgehalten sind – berechnet auf das jeweilige Geburtsdatum. Im Erwachsenenalter verlieren wir diese Personen aber leider. Jeder kennt die Situation: Man ist ein paar Mal umgezogen und der Impfpass ist weg. Ich hoffe sehr stark auf den elektronischen Impfpass, der dann sicherstellt, dass die Impfdokumentation nicht verloren geht.

Ist auch die HPV-Impfung bereits in der Bevölkerung angekommen?

Zunehmend ja. Insgesamt und auch bei den Buben wird die Akzeptanz immer besser. Immer wieder kommen Eltern mit Fragen zur HPV-Impfung zu mir, da diese ja relativ neu ist. Die Informationskampagnen scheinen zunehmend zu greifen. Wir empfehlen die Impfung und versuchen das Zeitfenster des kos­tenlosen Kinderimpfprogramms für die 9- bis 12-Jährigen so gut wie möglich zu nutzen.

Erhalten Ärzte genügend Ausbildung ­zum Impfen?

Nein, das glaube ich nicht. An der Universität ist Impfen kein verpflichtendes Prüfungsfach, sondern wird im Rahmen der Pädiatrie nur am Rande erwähnt. Auch in der Facharztausbildung ist es kein Thema, denn im Spital wird nicht geimpft. In der Regel hat der Pädiater, wenn er seine Kinderarztpraxis aufsperrt, also noch wenig Hintergrundwissen zu Impfungen und immunologischen Phänomenen. Das verleitet ein bisschen dazu, dass manche Kollegen sich dann eine eigene Realität schaffen, wofür es aber überhaupt keinen Grund gibt, da ausreichend wissenschaftliche Daten und sehr klare Empfehlungen vorliegen.

Wie kann man diese Wissenslücken füllen?

Als einzige deklarierte Lehrordination der MUW bieten wir Lehrveranstaltungen für die Studierenden unter anderem zum Thema Impfen an. Die Studierenden können ein Praktikum bei uns absolvieren und im Rahmen dieser Lehrveranstaltung wird auch die Praxis des Impfens vermittelt. Ich bin der Meinung, dass ein angehender Kinderarzt unbedingt ein paar Monate in einer Ordination mitgearbeitet haben sollte. Da erfährt er unter anderem auch alles zum Thema Mutter-Kind-Pass – dieses wichtige Vorsorgeinstrument spielt in der Ausbildung im Spital kaum eine Rolle. Insgesamt sollte die praxisnahe Pädiatrie der Primärversorgung stärker in die Ausbildung integriert werden.
Aktuell wird die Lehrpraxis in der Kinderheilkunde kaum wahrgenommen. Das liegt vor allem daran, dass sie optional und erst am Ende der Ausbildung möglich ist, also zu einem Zeitpunkt, wenn die Kollegen gerade dabei sind, sich im Spital zu etablieren, und nicht in die Praxis gehen wollen. Dadurch lernen die Kollegen aber die Ordinationen nicht kennen und trauen sich nicht zu, selbst einen Betrieb zu führen. Die Ausbildung in der Lehrpraxis sollte daher viel früher und verpflichtend in der Facharztausbildung stattfinden.

Viele Medikamente haben keine spezifische Zulassung für Kinder. Wie wohl fühlen Sie sich im Off-Label-Bereich?

Man darf nicht nur im Off-Label-Bereich Medikamente verordnen, man muss es sogar, denn die Patienten brauchen die bestmögliche Betreuung! Hier ein paar Zahlen dazu: Etwa 80 % der Medikamente in der Neugeborenenmedizin sind für dieses Patientenkollektiv nicht zugelassen. Auch gibt es keinen einzigen wirksamen Hustensaft, der für Kinder unter 2 Jahren zugelassen ist. Solange ich einen guten Grund für diese Off-Label-Behandlung habe – z. B. weil keine gleich wirksame zugelassene Alternative zur Verfügung steht –, bin ich rechtlich abgesichert. Die Zulassung ist ja lediglich das, was die Firma im Rahmen des Verfahrens beantragt und bewilligt bekommen hat, aber es ist unsere ärztliche Verantwortung und Verpflichtung, darüber hinauszugehen. Die fehlende Datenlage bei Kindern beruht auf dem weitverbreiteten Irrtum, dass Studien an Kindern unethisch seien. Da wir sie aber behandeln müssen und sichere Medikamente verwenden sollen, ist das Gegenteil der Fall: Keine Studien zu machen, wäre unethisch! Die neuen Richtlinien sehen ja mittlerweile auch vor, dass ein gewisser Anteil der Studienprobanden aus dem pädiatrischen Bereich kommen muss.

Was macht die Kinderheilkunde für Sie zu einem attraktiven Fach?

Vieles. Wir sind bis zum 18. Lebensjahr für alle Organsysteme zuständig: Dermatologie, Neurologie, Kardiologie, Pulmologie – die Pädiatrie umfasst ein sehr breites fachliches Spektrum, das spannend und herausfordernd ist. Auch das Patientengut ist enorm breit gestreut. Wir betreuen sowohl 500 Gramm schwere Frühgeborene als auch 120 Kilogramm schwere Jugendliche. Kinderheilkunde ist kein kleines Fach, sondern vielleicht sogar das größte Fach. Durch die neuen Möglichkeiten überleben heute Frühgeborene und Kinder mit Herzerkrankungen, die früher nicht lebensfähig gewesen wären, die aber eine aufwendige Nachbetreuung in entsprechenden Strukturen brauchen. Und diese sollten wir ihnen auch anbieten.

Vielen Dank für das Gespräch!