„Wir wollen, dass sich mehr Menschen impfen lassen“

ARZT & PRAXIS: Wien startet zusammen mit der Ärztekammer für Wien eine Grippeimpfaktion – wie sind die Details?

Johannes Steinhart: Die Stadt startet gemeinsam mit der Ärztekammer für Wien ab 1. Oktober eine Gratis-Impfaktion. Die Grippeimpfung gibt es nach Terminvereinbarung bei allen niedergelassenen Ärzten, in Ambulatorien und sogar in einer eigens umgebauten Straßenbahn. Wir wollen mit der Aktion möglichst viele Wienerinnen und Wiener dazu bewegen, sich gegen die saisonale Influenza impfen zu lassen.

Wie wichtig ist die Grippeimpfung?

Aufgrund der aktuellen Lage mit der Corona-Pandemie und COVID-19, das zum Teil ähnliche Symptome zeigt, hat sie an Bedeutung dazugewonnen, weil man rascher Diagnoseklarheit hat. Wenn ein Patient Symptome hat und grippegeimpft ist, liegt die Wahrscheinlichkeit für einen COVID-19-Verdacht näher. Dazu kommt, dass die Grippezeit immer auch eine Belastung für die Krankenhäuser ist, weil ja auch die Influenza schwere Verläufe zeigen kann. Haben wir durch die Grippeimpfung weniger oder weniger schwerere Influenzafälle, entlastet das das Gesundheitswesen, und vor allem die Spitäler haben damit Ressourcen frei für COVID-19-Fälle. Aufgrund der Gesamtsituation mit der COVID-19-Bedrohung hat also die Grippeimpfung an Wichtigkeit dazugewonnen. Auch das Sensorium für Impfungen steigt aufgrund der aktuellen Diskussion insgesamt. Daher werden sich heuer auch mehr Menschen impfen lassen.

Gibt es genug Impfstoff?

Wir haben bei Influenza eine übliche Durchimpfungsrate von 8 %. Das wird heuer hoffentlich steigen, und das ist auch das Ziel der Gratis-Impfaktion in Wien. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob wir für das gesamte Bundesgebiet ausreichend Impfstoff haben. Aber ich weiß, dass Wien große Anstrengungen unternommen hat, um deutlich mehr Impfdosen zu erhalten. Ich denke, dass Wien es etwa schaffen wird, 25 % der Bevölkerung zu impfen. Wien hat bereits im Frühjahr dieses Jahres 400.000 Impf-dosen für die Grippeimpfung bestellt – das sind dreimal so viele wie in den letzten Jahren. Die Impfung wird allen Wienerinnen und Wienern ab 1. Oktober gratis angeboten, die Aktion läuft bis Ende März des kommenden Jahres.

Und wenn das auch nicht reicht?

Wenn es wirklich einen großen Bedarf gibt – und das sieht man ja durch die Voranmeldungen bei den Ärztinnen und Ärzten –, könnte ich mir vorstellen, dass man nach Risikogruppen gestaffelt impft. Man muss in jedem Fall darauf achten, dass die Bedürftigen bevorzugt werden.

Wie schätzen Sie die Impfbereitschaft der Bevölkerung ein?

Es gibt jetzt schon Interessenbekundungen von Menschen in Ordinationen für Impftermine. Das wird in den kommenden Wochen sicherlich zunehmen, wenn auch die COVID-19-Fälle zunehmen. Wir beobachten, dass die Sensibilität für das Thema in jedem Fall steigt.

Wie läuft das Impfprogramm genau ab?

Alle niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sowie alle Gruppenpraxen, Primärversorgungseinheiten in Wien, aber auch alle Wahlärzte können teilnehmen. Wahlärzte müssen sich bei der Teilnahme an diesem Programm an die Vorgaben beim Impfhonorar und bei der Dokumentation halten. In der Pandemie gilt keine Sonderfachbeschränkung, sodass Impfungen durch alle Ärzte verabreicht werden können. Wichtig ist, dass sich die Ärzte, die teilnehmen wollen, auf der Website impfservice.wien im Bereich „Service für ÄrztInnen“ unter „Teilnahme an der Wiener Gratis- Influenza-Impfkampagne 2020/2021“ anmelden. Bei Gruppenpraxen wird um eine Anmeldung als Organisationseinheit ersucht. Man erhält dann auch einen Apothekenbestellschein für den Impfstoff. Dieser kann dann wie bei jedem Gratis-Impfprogramm bei der Apotheke der Wahl bestellt werden und wird dann in die Ordination geliefert.

Immer wieder berichten die Medien auch über impfskeptische Ärzte. Wie beurteilen Sie das und was tun Sie dagegen?

Gegensteuern kann man mit Information und Aufklärung. Es gibt bei manchen Ärzten differenzierte Meinungen zu verschiedenen Impfungen. Ich würde das aber nicht überbewerten. Die überwiegende Mehrheit der Ärzte und auch die offizielle Position der Ärztekammer für Wien decken sich mit den wissenschaftliche Guidelines, und die sind klar. Kritische Ärzte bekommen hier natürlich mehr Präsenz in der öffentlichen Debatte. Was apokalyptisch klingt, bekommt derzeit auch die Schlagzeile. Das soll keine pauschale Kritik an den Medien sein, aber am System und an der gesellschaftlichen Entwicklung. Wenn wir Aussagen, die polarisieren, stark hervorheben, darf man sich nicht wundern, wenn es zu einer Polarisierung der Gesellschaft kommt. Natürlich spielen hier soziale Medien auch eine bedeutende Rolle. Es geht nicht nur sehr stark um pro und contra, vor allem die Tonalität ist hier schwer erschreckend. Dazu kommt in der Bevölkerung auch das fehlende Wissen: Viele Menschen verwechseln ja auch eine simple Verkühlung mit einer Grippe. Wer aber schon einmal an einer Influenza erkrankt ist, weiß, dass das schon etwas anderes ist als eine Erkältung. Der Trend geht aber dahin, dass auch Impfskeptiker zugänglicher werden. Die Teilnahme am Impfprogramm ist freiwillig, daher kann jeder nach seinem Gewissen entscheiden. Gerade Ärzte haben hier aber eine besondere Verantwortung.

Lassen Sie sich selbst impfen?

Ja, auf jeden Fall! Auch gegen Pneumokokken lasse ich mich impfen, weil man da ja auch Lungenkomplikationen bekommt. Und da kann es dann ebenfalls zu einer zusätzlichen Belastung für das Gesundheitswesen kommen.

Was sollen Ärzte bei Grippe- oder Corona- Verdacht tun und wie kann man die beiden Infektionen auseinanderhalten?

Wichtig ist die telefonische Anmeldung, dann kann man im Verdachtsfall entsprechend vorsichtig reagieren und eine Corona-Testung zu Hause veranlassen. Wir haben deshalb auch immer eine Verlängerung der telefonischen Krankmeldung gefordert. Die ÖGK hat das aber leider gestrichen. Die ÖGK und die Wirtschaftskammer, die hier drückt, glauben, dass wir sofort erkennen, wer ein Coronafall ist. Wir müssen aber sicherheitshalber zuerst so tun, als sei es in jedem Fall eine Corona-Infektion. Man kann das erst nach dem entsprechenden Test feststellen.

Derzeit wird viel diskutiert über die Entwicklung einer Corona-Impfung – wann kommt sie?

Es gibt 176 Projekte weltweit. Man kann nur hoffen, dass es bald eine Lösung gibt, die uns helfen kann. Ich sehe aber auch die Gefahr, dass sich die Politik da zu viel einmischt. Man darf sich aber jetzt angesichts der öffentlichen Debatte nicht wundern, dass es ein Politikum ist. Corona ist leider auch mehr eine gesundheitspolitische Sache als eine ärztliche.

Vielen Dank für das Gespräch!