Wissenszuwachs als Chance und Herausforderung

ARZT & PRAXIS: Herr Professor Laimer, Sie leiten die Österreichische Akademie für Dermatologische Fortbildung nun seit drei Jahren. Wie lautet Ihr bisheriges Fazit?

Univ.-Prof. Dr. Martin Laimer: Für mich war es bislang eine sehr spannende, interessante und bereichernde Zeit. Mein Dank gilt meinem OEADF-Team, Christine Prodinger und Ursula Pontoni, sowie der ÖGDV, ihren Arbeitsgruppen sowie der Kollegenschaft im In- und Ausland für die grandiose Unterstützung bei der Umsetzung des OEADF-Konzepts. Unsere Fortbildungsformate spiegeln ja die Expertise, Leistungsfähigkeit und Innovationskraft unseres Faches und unserer Gemeinschaft wider, die allesamt sicherlich nicht nur mich immer wieder aufs Neue begeistern. Nachdem die Fortbildungslandschaft in Österreich vielschichtig gestaltet und auch international geprägt ist, war es am Beginn notwendig, unser Profil zu schärfen. Für die OEADF steht die Vermittlung von dermatologischem Praxistransferwissen mit anwendungsorientierter, instruktiver Aufbereitung (somit Diagnose, Therapie und Management) im Mittelpunkt. Mit der jährlich stattfindenden Frühjahrstagung soll konzis in zwei Tagen die Überschaubarkeit des Faches angesichts zunehmender Spezialisierung und Diversifizierung erhalten bleiben, gleichzeitig aber die dynamische Entwicklung und Komplexität unseres Faches vermittelt werden. Ergänzende Veranstaltungen das restliche Jahr hindurch unterstützen diese Intention. Die nötige Authentizität und qualitative Referenz gewährleisten wir durch die aktive Einbindung renommierter Expertinnen und Experten, u. a. der Arbeitsgruppen der ÖGDV. Wir verfolgen eine transparente, partizipative Programmplanung, bei der jedes Mitglied die Möglichkeit hat, Themen, Inhalte und Vortragende beispielsweise auf Basis wahrgenommener Qualifizierungsbedarfe oder aktueller Entwicklungen vorzuschlagen.
Gekommen, um zu bleiben, ist das Hybridformat. Es ermöglicht eine deutlich vergrößerte Reichweite und steht auch dank multimedialer Inhalte hinsichtlich der Informationsaufbereitung per se einem klassischen Vortragskongress um nichts nach.

Kommen wir von der Fort- zur Ausbildung. Was macht gute dermatologische Ausbildung aus?

Angesichts des enormen Wissenszuwachses ist es vor allem wichtig, das Relevante und Qualitative zu extrahieren. Das Werkzeug hierfür muss man sich bereits in der Ausbildung aneignen, beispielsweise durch Identifikation seriöser Quellen oder kritische Diskussion von wissenschaftlichen Methoden und Interpretation von Ergebnissen in Klinikkonferenzen oder Journal Clubs.
Strukturell ist es wichtig, dass administrative Aufgaben nicht überhandnehmen, damit sich die jungen Kollegen zunächst auf die klinische Tätigkeit fokussieren zu können. Dabei kommt dem Erlernen der präzisen Beschreibung, der Erfassung mit allen Sinnen und der differenzialdiagnostischen Deklination und Deutung von Hautläsionen größte Bedeutung zu. Organisatorisch sollen die Inhalte des Ausbildungskataloges auch tatsächlich absolvierbar sein, was entsprechende Rücksichtnahme der Kollegenschaft, z. B. im Rahmen der Dienstplaneinteilung, notwendig macht. Jüngere profitieren von den Erfahrungswerten und der Routine der Älteren, Letztere von neuen Zugängen und dem Hinterfragen der nachrückenden Generation. Dieser fachliche und menschliche Austausch ist für beide Seiten bereichernd und unterstützt ein positives Arbeitsklima, das zusammenschweißt.
Um oft standortspezifisch entwickelte Expertisen breiter verfügbar zu machen, konzeptionieren wir gerade ein nationales Rotationsprogramm für Residents. Diese sollen dann beispielsweise für einige Zeit Spezialambulanzen in unterschiedlichen Häusern hospitieren können, was letztlich auch zu einer gewissen Standardisierung der Ausbildungsqualität beitragen wird. Generell muss man in der Ausbildung auch der zunehmenden Breiten- und Tiefenentwicklung unseres Faches Rechnung tragen. Hier bildet das Modulsystem der neuen Ausbildungsordnung einen ersten strategischen Ansatz.

Aus anderen Ländern, aber auch aus dem klinisch-praktischen Jahr in Österreich kennen wir das Mentoring-System, bei dem der Auszubildende einem Mentor zugewiesen ist. Halten Sie dieses System für erstrebenswert?

Natürlich ist das sinnvoll. Die Umsetzung benötigt Ressourcen, mittelfristig ist sie aber eine gewinnbringende Investition, um die Schlüsselressource „Mitarbeiter“ aufzubauen und für eine prosperierende Entwicklung abzusichern. Mentoren geben ihr Wissen großzügig weiter, lassen andere an ihren Erfahrungen teilhaben, instruieren sachlich, geben wertvolle Ratschläge, würdigen, begleiten, helfen beim Priorisieren, inspirieren, übertragen Verantwortung, lassen auch andere vor den Vorhang, definieren ihren Erfolg über den Erfolg ihrer Schüler. Eine derartige Einstellung kann man aber nicht immer und überall erwarten.

Soweit bislang bekannt ist, beinhaltet die Ausbildung zum geplanten Facharzt für Allgemeinmedizin die Dermatologie wieder als Pflicht- und nicht als Wahlfach. Ein richtiger Schritt?

Das wäre zu begrüßen, ist aber meines Wissens noch nicht in trockenen Tüchern. Daten aus Deutschland zeigen, dass 30 % der Bevölkerung innerhalb eines Jahres Kontakt zu einem Hautarzt haben und 80 % in ihrem Leben bereits in dermatologischer Behandlung waren. Hauterkrankungen zählen überhaupt zu den häufigsten Behandlungsgründen in der medizinischen Versorgung. Die demografische Entwicklung wird das nicht ändern – im Gegenteil, geht sie doch mit einer prognostizierten Zunahme diverser Hauterkrankungen einher (u. a. Autoimmundermatosen, Hautkrebs, Ulzera). Der Bedarf an dermatologischen Grundkenntnissen für Allgemeinmediziner ist also beleg- und nachvollziehbar und wird auch schon jetzt entsprechend rückgemeldet.
Aber auch wenn man Wahl- oder Pflichtfach und fachpolitische Aspekte zunächst ausklammert: Entscheidend ist jedenfalls die Sicherstellung einer qualitätsgesicherten Ausbildung, was aber nach strukturellen und personellen Ressourcen verlangt – und spätestens da wird es komplizierter und braucht Lobbyismus, den die ÖGDV offensiv betreibt.

Was kann die Allgemeinmedizin leisten und wo braucht es den Dermatologen? Wie häufig sind Fehldiagnosen?

Das ist nicht pauschal zu beantworten. Es gibt ein Spektrum an Basisversorgung, das bereits breit durch Allgemeinmediziner abgedeckt wird, wie z. B. die leichten Formen der Akne, Psoriasis oder atopischen Dermatitis ebenso wie Urtikaria, Impetigo und Borreliose. Allerdings steckt manchmal eben auch hinter vermeintlich Banalem mehr, weshalb Verlaufsevaluationen wichtig sind und bei Ungereimtheiten eher früher als zu spät bzw. gegebenenfalls wiederholt Facharztkonsultationen erfolgen sollten. Nicht zu vernachlässigen sind rezente, für Nicht-Dermatologen nicht immer unmittelbar nachvollziehbare Entwicklungen, sodass innovative Therapiemöglichkeiten entsprechend den aktuellen Leitlinien von Fachfremden nicht oder nur unzureichend ausgeschöpft werden. Beispielsweise werden dann Neurodermitis-Patienten mitunter jahrelang inadäquat mit topischen Steroiden oder Calcineurininhibitoren behandelt, obwohl bei ihnen längst eine Systemtherapie gerechtfertigt wäre. Auch Psoriasis-Patienten, die trotz einer typischen Arthritis-Anamnese jahrelang nur eine Lokaltherapie erhalten haben, werden vorstellig.
Vor diesem Hintergrund werden die Zeiten für Generalisten generell schwieriger. Demut vor dem Fach und der Komplexität und Dynamik der Medizin steht aber uns allen gut – das lehrt der klinische Alltag. Das „Wer“ ist zunächst jedoch weniger wichtig als das „Wie“. Dabei wird man bald von der Nachhaltigkeit echter Qualität und der Wertigkeit einer partnerschaftlich interdisziplinären, nicht unidirektionalen Zusammenarbeit überzeugt.

Welche dermatologischen Fortbildungsangebote sind Allgemeinmedizinern und Kollegen aus nicht-dermatologischen Disziplinen besonders zu empfehlen?

Bislang gibt es kein von der Fachgesellschaft zentral koordiniertes und akkordiertes Fortbildungsangebot für Allgemeinmediziner. Auf regionaler Ebene existieren Kooperationen zwischen manchen Kliniken und beispielsweise der Ärztekammer oder der Gesellschaft für Allgemeinmedizin (ÖGAM, Anm.), wo u. a. Seminarreihen organisiert werden. Private Anbieter fokussieren im Sinne ihrer Auftraggeber häufig gewisse Themenbereiche, die selbstverständlich wichtig sind, aber bei Weitem nicht alles abdecken, was dermatologisch für die Allgemeinmedizin relevant ist.
Die OEADF selbst hat mit dem Forum Aus- und Fortbildung und der OEADF Summer School Formate entwickelt, die sich zwar primär an Assistenzärzte richten, aber auch für Facharztkollegen und Allgemeinmediziner interessant sein können. Dabei werden in Vorträgen, Kursen und praktischen Übungen dermatologische Inhalte von ausgewiesenen Experten umfassend aufbereitet. Durch Integration von theoretischen Grundlagen, Praxistransferwissen und Erfahrungswerten sowie Anwendungs- und Interaktionsmöglichkeiten soll ein klarer Mehrwert gegenüber klassischem Lehrbuchwissen geschaffen werden. Interessierte finden hierzu Informationen auf unserer Homepage unter www.oeadf.at.

Die Coronapandemie hat dem Thema Telemedizin einen deutlichen Schub beschert. Welche Rolle spielt sie in Ihrem Arbeitsalltag?

Mit der kolportierten Intention, die Patientenfrequenz in den Ambulanzen entzerren und die Versorgung von Patienten, die in diesen Zeiten ungern ins Spital kommen, gewährleisten zu wollen, wurde auch in meinem Haus vermehrt auf telemedizinische Betreuung gesetzt. Unser Fach bietet sich hier besonders an, weil es durch die unmittelbare Einsehbarkeit des Hautorgans morphologisch geprägt ist. Insbesondere für die Einschätzung von differenzialdiagnostisch wichtigen Details können technische Limitationen wie Beleuchtung, Kamera- und Übertragungsqualität bzw. die fehlende Standardisierung aber einschränkend sein. Ebenso existieren zum Teil noch rechtliche, dokumentations- und datenschutzbezogene sowie verrechnungstechnische Unklarheiten. Große, global agierende, überwiegend private Anbieter drängen aber bereits in den Gesundheitsmarkt, weshalb es entscheidend ist, dass wir als Fachgesellschaft auf diese Entwicklungen Einfluss nehmen und Qualitätskriterien aufzeigen. Eine rezente Umfrage in den USA hat gezeigt, dass die Akzeptanz für Televisiten derzeit vor allem bei Jüngeren, Gesünderen und besser Gebildeten aus dem städtischen Bereich hoch ist, womit aber gerade bei anderen, besonders versorgungsrelevanten Zielgruppen Nachholbedarf bestünde. Zudem werden Kosten und die hierorts gut entwickelte Verfügbarkeit analog physischer Versorgungsalternativen den zukünftigen Stellenwert der Telemedizin mitbestimmen.

Apropos Digitalisierung: Halten Sie den Einsatz von künstlicher Intelligenz beispielsweise zur Beurteilung von Hauterscheinungen hinsichtlich potenzieller Malignität – Stichwort: Muttermalkontrolle – für sinnvoll?

In der Dermatologie findet künstliche Intelligenz (KI) derzeit vor allem bei der Mustererkennung von Pigmentläsionen und der Bildanalyse Anwendung, deren Praktikabilität mit zunehmender Spezifität steigt. KI soll die Suche nach Antworten u. a. auf die Datenexplosion, die demografische Entwicklung, den zu-nehmenden Kostendruck oder den Personalmangel im Gesundheitswesen unterstützen. Durch Nutzung des technologischen Fortschritts bietet sie auch die Chance, die globale medizinische Versorgung und den Zugang hierzu zu verbessern. Neben morphologischen Analysen wird KI dabei auch in anderen Bereichen zu einem wichtigen Hilfsmittel. Dazu zählen die Analyse von Krankengeschichten, die Identifikation von Indexpatienten, Krankheiten, Risikofaktoren und Biomarkern oder auch die (in silico) Entwicklung von Medikamenten: In Modellsystemen kann simuliert werden, wie einzelne Komponenten auf pathologische Signaturen wirken, um dann mittels Hochdurchsatzverfahren oder Wirkstoffbibliotheken das optimale Agens zu bestimmen, das sich in der Folge präzise gegen die zuvor definierte aberrante bzw. dysregulierte Signalkaskade richtet. Diese Technologie liefert beeindruckend schnell Resultate, was zeit- und kosteneffiziente Anwendungen beispielsweise im Sinne des „drug repurposing“ auch in Nischenindikationen wie bei seltenen Erkrankungen verspricht. Daten sind hierbei das neue Gold, was auch die großen Datensammler der digitalen Welt wissen. Neben der Quantität, die wir selbst auch in Verbünden kaum erreichen werden, spielt aber auch die Qualität der gesammelten Daten eine wesentliche Rolle, was unsere Position bei der Entwicklung von Algorithmen stärken könnte. Nicht zuletzt wird der Einsatz von KI aber die Arzt-Patienten-Beziehung verändern. Wenn uns Superrechner Arbeitslast abnehmen, könnte die so gewonnene Zeit – falls nicht von findigen Gesundheitsökonomen wegrationalisiert – für Empathisches und die Patientenbindung genutzt werden. Wie wir uns damit zurechtfinden, bleibt nach konsequenter Entwöhnung abzuwarten. Jedenfalls bleiben die Medizin und die Dermatologie höchst spannend, womit uns brennende und mitreißende Themen für die OEADF-Jahrestagungen sicher auch in Zukunft erhalten bleiben.

Vielen Dank für das Gespräch!