Sicherheit geht vor

Stellen Sie sich vor, Ihr Auto benötigt ein ­„Pickerl“, doch aufgrund geänderter Gesetze dürfen nur mehr Werkstätten mit 100 Mitarbeitern diese Prüfplakette erteilen. Von diesen 100 Mitarbeitern müssen mindestens 50 der Angestellten eine Meisterprüfung nachweisen. Die Auswahl wird eng. Die Inspektion dauert nicht wie bisher eine Stunde, sondern drei Tage, da die Anforderungen an die Prüfung verschärft wurden. Die Auswahl wird noch enger. Nicht nur Autos, sondern auch Roller und Fahrräder benötigen ab sofort eine Prüfplakette. Die Auswahl wird neuerlich enger. Werkstätten schließen, weil sie die Anforderungen nicht erfüllen können. Die wenigen, die noch offen haben, sind heillos überlastet. Ohne gültiges Pickerl kein Weiterfahren… Der Unmut in der Bevölkerung wäre wohl mehr als deutlich spürbar! In einer ähnlichen Situation befindet sich derzeit die Medizinprodukte-Branche.

Fehlende Unterstützung

Beobachtet man die Behörden, so scheint es, dass Medizinprodukte-Hersteller unter dem Generalverdacht stehen, nicht gesetzeskonform zu arbeiten. „Anders kann ich es mir nicht erklären, dass wir so viele Steine in den Weg gelegt bekommen. In Österreich scheinen die Behörden fast schon froh, dass die Benannten Stellen weg sind, statt die heimischen Firmen zu unterstützen und damit den Standort Österreich zu stärken. Dabei sitzen wir alle im gleichen Boot und es würde eine europaweite, gemeinsame Anstrengung der Behörden, Benannten Stellen und Hersteller brauchen, sonst leiden am Ende nur die Patienten unter einem unterversorgten Markt. Es fehlt aber derzeit allen Stakeholdern an Zeit, Ressourcen und Personal zur Umsetzung“, sagt DI Dr. Bernhard Wittmann, stellvertretender Sprecher der AUSTROMED-­Arbeitsgruppe „Regulatory“.

Wem nützt das Ergebnis?

Die Branche der Medizinprodukte präsentiert ein sehr heterogenes Bild, was es manchmal schwierig macht, ihre Bedeutung in wenigen Worten zu erklären: Über 500.000 verschiedene Artikel gehören hier dazu, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der Zungenspatel, der Wundverband, das Hüftimplantat oder die OP-Lampe – all das sind Medizinprodukte, deren regulatorischer Rahmen von der EU vorgegeben wird. Sie alle sollen die Behandlung des Patienten effizient und effektiv machen, auf jeden Fall aber risikoärmer als bisher. „Es war sicher nicht leicht, ein diesbezügliches Gesetz zu formen, dass allen Ansprüchen gerecht wird. Es lag auch auf der Hand, dass eine Überarbeitung der alten Regelungen dringend notwendig war, nicht nur aufgrund des PIP-Skandals mit schadhaften Brustimplantaten. Ich denke, dass die EU durchaus ambitionierte Ziele hatte, doch was jetzt vor uns liegt, ist politische Anlassgesetzgebung und kein durchdachtes Regelwerk. In der Gesetzwerdung waren so viele Partner mit unterschiedlichen Interessen involviert, dass dieses Ergebnis jetzt aktuell niemandem wirklich nützt“, ist Wittmann überzeugt.
Natürlich haben Unternehmen die Möglichkeit, sich mit einer Benannten Stelle aus dem Ausland so aufzustellen, dass alle ­Anforderungen abgedeckt werden. In der Praxis ist derzeit gar kein anderer Weg möglich. Unternehmen, die Zertifizierungen oder ­Rezertifizierungen benötigen, sind also gezwungen, einmal mehr Geld in die Hand zu nehmen und ihr Glück im EU-Raum zu ­suchen. Unterlagen müssen übersetzt, ­Personal muss auf Reisen geschickt und Leistungen müssen im Ausland eingekauft werden. Nachdem aber überall in Europa die Zahl der Zulassungsstellen reduziert wurde, liegen die Wartezeiten in den Nachbarländern derzeit bei rund neun Monaten für ein „durchschnittliches“ Produkt. Viele Zulassungsstellen sind dermaßen überlastet, dass sie sich für „schwierige“ Produkte, also wenn es um innovative Ideen geht oder kleine Unternehmen die Einreicher sind, die oft mehr Unterstützung benötigen, gar keine Zeit nehmen wollen.

Innovation als Teil der Strategie

Die Folge: Es wird zu einer – nicht ganz freiwilligen – Marktbereinigung kommen. „Ich habe es bereits selbst erlebt, dass Kunden lieber in Ländern produzieren lassen, wo die Aufsichtsbehörden weniger Schwierigkeiten machen. Es ist ihnen zu riskant, hier in Österreich einen Hersteller zu nehmen und dann bei der Zulassung Verzögerungen in Kauf nehmen zu müssen. Daher wandert die Wertschöpfung ab, aber kein Patient wird dadurch sicherer behandelt“, ist der ­AUSTROMED-Arbeitsgruppenvertreter überzeugt. Für Patienten wird es kurzfristig auch keinen Unterschied machen, denn die Produkte werden ausgetauscht oder im ­Ausland eingekauft. Innovationen werden hingegen Schritt für Schritt vom Markt verschwinden.

AUSTROMED STANDPUNKT
Medizinprodukte waren im Behandlungsprozess immer unverzichtbar, sicher und effektiv. Durch eine rasche Zulassung waren sie auch umgehend für Patienten verfügbar. Der Innovationsgedanke war Teil der Marktstrategie, denn auf Basis ständiger Kundenkontakte wurden laufend Verbesserungen an den Produkten durchgeführt. Auch wenn die neuen Regularien den verantwortlichen Medizinprodukte-­Betrieben viel Mühe und Energie ­abverlangen, zahlt es sich aus in die Zukunft zu investieren.