Diversifizierung der diabetes­bezogenen Morbidität und Mortalität

Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege!

In den letzten 40 Jahren hat sich die Anzahl Erwachsener, die mit Diabetes mellitus leben, von 108 auf 422 Millionen fast vervierfacht (NCRD-RisC, Lancet 2016; 387[10027]: 1513–30); die Lebenserwartung von Menschen mit Diabetes hat sich positiv verändert – was allerdings gleichzeitig bedeutet, dass nun ein größerer Anteil der Lebenszeit mit einer chronischen Erkrankung verbracht wird (Muschik D et al., Popul Health Metrics 2017; 15[1]: 5). Wie haben sich gesellschaftliche und therapeutische Entwicklungen auf Begleitkomplikationen ausgewirkt, inwiefern haben sie die häufigsten Mortalitätsursachen beeinflusst, und – die vielleicht wichtigste Frage – welche Maßnahmen sind zu setzen, um Patienten nach wie vor adäquat zu versorgen (Pearson-Stuttard J et al., Endocrinol Metab Clin N Am 2021; 50: 357–68)?

Übersterblichkeit sinkt

In Hinblick auf Gesamtmortalitätsraten wurde in den letzten zwei Jahrzehnten ein beträchtlicher Rückgang verzeichnet; in den USA, Kanada, Australien und im Vereinigten Königreich (UK) lag dieser zwischen 30 und 35 %. Dieser erfreuliche Trend zeigte sich auch bezüglich der Übersterblichkeit im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung: in den USA wurde diese fast halbiert (von 11,3 auf 5,9 %), Ähnliches zeigte sich in Kanada und UK (Gregg EW et al., Lancet 2018; 391: 2430–40; Lind M et al., Diabetologia 2013; 56[12]: 2601–8). Die Assoziation von Diabetes und erhöhtem Risiko für KHK und Schlaganfall führte zur Implementierung sekundärpräventiver Strategien, die – neben der Verfügbarkeit neuer antidiabetischer Substanzklassen mit protektiven Effekten – bedeutend zur Reduktion der kardiovaskulär bedingten Mortalität beitrugen. Diese Erfolge führten insgesamt zu einer Umverteilung und Diversifizierung der Todesursachen. Die krebsbedingte Mortalitätsrate blieb weitgehend konstant (wobei der Gesamtanteil an der Übersterblichkeit anstieg). In zwei Bereichen der Begleiterkrankungen wurden steigende Mortalitätsraten verzeichnet: Demenzassoziierte Todesfälle nahmen bei Patienten mit DM um ein Vielfaches zu, die Zunahme verlief im Vergleich zur stoffwechselgesunden Bevölkerung auch rascher. Weiters stieg die Mortalität aufgrund hepatischer Erkrankungen in der englischen Diabetespopulation um 23 % an (Pearson-Stuttard J et al., Lancet Diabetes Endocrinol 2021; 9[3]: 165–73).

Vaskuläre Komplikationen –nicht länger auf Platz 1?

Traditionell erfolgte die Klassifizierung diabetesbezogener Begleit­erkrankungen in mikrovaskuläre und makrovaskuläre Komplikationen. Mittlerweile ist jedoch bekannt, dass Diabetes vielfältige und weitreichendere Effekte auf multiple Organsysteme hat. Passend zu den bereits beschriebenen Todesursachen fand auch in Hinblick auf Diabeteskomplikationen eine Diversifizierung statt. Neben den „traditionellen“ Komorbiditäten, deren Prävention bzw. Reduktion bereits fest in Leitlinien verankert ist, gilt es nun jene Aspekte (therapeutisch) zu berücksichtigen, die erst zunehmend an Wichtigkeit gewinnen. Die Erkrankungen umfassen psychische Erkrankungen wie Depression und Angststörungen, Atemwegserkrankungen und muskuloskelettale Komplikationen (Harding JL et al., Diabetologia 2019; 62: 3–16; Gläser S et al., Respiration 2015; 89: 253–64; Aga F et al., Diabetes Metab Syndr Obes 2019: 333–56). Depression ist bei Patienten mit Diabetes mit einer eingeschränkten Lebensqualität und erhöhter Mortalität assoziiert, was einmal mehr die Wichtigkeit einer multifaktoriellen Betreuung illustriert.

„It’s complicated“ beschreibt die Auswirkungen einer Dysglykämie auf multiple Organsysteme, die Lebensqualität und die Psyche der Patienten. Es steht auch für die Herausforderung für betreuende Ärzte, eine Therapiestrategie zu finden, die nicht nur gegen die Hyperglykämie gerichtet ist, sondern auch weitere potenzielle „Brandherde“ berücksichtigt. Komplex ist auch unser Focusthema: Diese Ausgabe widmet sich den vielen Aspekten der klinischen Inertia und Adhärenz. Das Focuskonzept stammt von Prim. Univ.-Prof. Dr. Peter Fasching, Wien, sein Vorwort ist auf Seite 19 zu finden. Die Beiträge reichen unter anderem vom DMP-Programm bis zum diabetischen Fuß, von der Kardiologie und Nephrologie bis zum Lebensstil, von der Adipositas bis zum Fasten im Ramadan.

 

Ich wünsche eine interessante Lektüre!