Wenig Evidenz für eine wachsende Patientengruppe

Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege!

Noch in den 1950er-Jahren lag die Lebenserwartung in Österreich bei 64 (Männer) bzw. 69 (Frauen) Jahren, im Jahr 2011 bereits bei 78 bzw. 83 Jahren. Nach den Daten der Statistik Austria (2011) kann ein heute 60-jähriger Mann in unserem Land auf weitere 21,7 Lebensjahre, eine gleichaltrige Frau sogar auf weitere 25,6 Lebensjahre hoffen. Vor diesem Hintergrund verwundert nicht, dass auch altersassoziierte Erkrankungen sukzessive zunehmen, wobei im Fall des Diabetes mellitus dieser Trend durch verändertes Ernährungsverhalten und eine zunehmend sedentäre Lebensweise zweifellos verstärkt wird. Nicht zuletzt ist der Anstieg der Diabetikerzahlen auch darauf zurückzuführen, dass die Patienten immer besser behandelt werden können und entsprechend länger leben.
Die steigende Zahl alter Menschen mit Diabetes stellt uns in medizinischer Hinsicht vor große Herausforderungen: Fortgeschrittenes Alter ist durch eine Reihe von physiologischen Besonderheiten, eine allgemein verringerte physische und mentale Belastbarkeit und oft durch Multimorbidität gekennzeichnet, was den Diabetesverlauf erschwert und die therapeutischen Möglichkeiten einengt. Dazu kommt, dass viele etablierte Therapiekonzepte auf erschreckend wenig Studienevidenz bei geriatrischen Kollektiven verweisen können.
Die Österreichische Diabetes Gesellschaft hat 2007 erstmals ein Kapitel „Geriatrische Aspekte bei Diabetes mellitus“ in ihre Praxisleitlinien aufgenommen (Fasching, Wien Klin Wochenschr 119[Suppl 2]:S62, 2007) und dieses in der Folge ergänzt (Fasching, Wien Klin Wochenschr 121[Suppl 5]:S68, 2009). Die neuerlich aktualisierte Version dieses Kapitels wird in wenigen Wochen zur 40. Jahrestagung der ÖDG in Salzburg präsentiert werden.
Im Juli 2012 hat eine internationale Expertengruppe um den britischen Diabetologen und Geriater Alan Sinclair eigene Empfehlungen für das Diabetesmanagement im Alter veröffentlicht. Das im Auftrag der International Association of Gerontology and Geriatrics, der European Diabetes Working Party for Older People und der International Task Force of Experts in Diabetes erstellte Positionspapier* ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Zum einen inkludiert das Expert Panel 18 renommierte Diabetologen und Gerontologen aus den USA, Europa, Israel und Australien. Zum anderen wurde erstmals der Versuch unternommen, Empfehlungen für die Versorgung geriatrischer Diabetes­patienten auf der Basis eines umfassenden Review der verfügbaren Evidenz nach methodologisch klaren, transparenten Kriterien zu formulieren. Außerdem wurden die für die Versorgung geriatrischer Diabetespatienten relevanten Bereiche benannt und nach Wichtigkeit gereiht.
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist weiters, dass der Frage der Blutzuckerzielwerte von der Expertengruppe oberste Priorität eingeräumt wird, wobei Komorbiditäten sowie kognitiver und funktioneller Status bei der Zielwertvereinbarung mit dem Patienten bzw. den Pflegeverantwortlichen zu berücksichtigen sind. Generell gilt ein HbA1c-Ziel von 53–59 mmol/mol (7,0–7,5 %). Antidiabetika sollten erst dann verabreicht werden, wenn der Nüchternblutzucker konsistent über 7 mmol/l (126 mg/dl) liegt. Um das Hypoglykämierisiko gering zu halten, sollte der Nüchternblutzuckerwert unter Therapie nicht unter 6 mmol/l (108 mg/dl) fallen, Blutzuckerwerte unter 5 mmol/l (90 mg/dl) sind grundsätzlich zu vermeiden. Für den Beginn einer Blutdrucktherapie wird ein Schwellenwert von 140/90 mmHg (ab dem 75. Lebensjahr sowie bei pflegebedürftigen Patienten von 150/90 mmHg) empfohlen, niedrigere Blutdruckwerte können bei eingeschränkter Nierenfunktion erforderlich sein.
Weitere Schwerpunkte legt das Positionspapier auf die Patientensicherheit (regelmäßiges Risikoassessment, Vermeidung von Polypharmazie und Hypoglykämien, einfache Therapieregime) und auf den Stellenwert von kognitiven und funktionellen Einschränkungen als spezifische Diabeteskomplikationen im Alter.
Auf diese und weitere wichtige Aspekte in der Betreuung von alten Menschen mit Diabetes wird in dieser Ausgabe von DIABETES FORUM im Detail eingegangen. Die Auswahl der Themen besorgte Frau Prof. Monika Lechleitner, Leiterin einer Internen Abteilung mit geriatrischem Schwerpunkt und ausgewiesene Expertin auf dem Gebiet des Altersdiabetes. Ihr und dem interdisziplinären Autorenteam gilt mein herzlicher Dank.

 

* Sinclair A, Morley JE, Rodriguez-Mañas L, Paolisso G, Bayer T, Zeyfang A, Bourdel-Marchasson I, Vischer U, Woo J, Chapman I, Dunning T, Meneilly G, Rodriguez-Saldana J, Gutierrez Robledo LM, Cukierman-Yaffe T, Gadsby R, Schernthaner G, Lorig K, Diabetes Mellitus in Older People: Position Statement on behalf of the International Association of Gerontology and Geriatrics (IAGG), the European Diabetes Working Party for Older People (EDWPOP), and the International Task Force of Experts in Diabetes. JAMDA 13:497, 2012