Differenzialdiagnose des Knieschmerzes – Erste Schritte zur Abklärung

Prävalenz des Knieschmerzes

“Das Leben zwingt uns zu allem. Und sei es auf die Knie”, sprach Erhard Blanck, deutscher Heilpraktiker, Schriftsteller und Maler; und in der Tat sind Knieschmerzen ein sehr oft angetroffenes Symptom in der täglichen Praxis.
Je nach Patientenpopulation leiden ca. 20-45% an Schmerzen der Kniegelenke, wobei die Prävalenz bei nichtchronischen Schmerzen (weniger als 3-monatige Dauer) und chronischen Schmerzen (mehr als 3-monatige Symptomdauer) mit jeweils ca. 20% ausgeglichen ist. Über äußerst heftigen Knieschmerz bzw. Behinderungen klagen geschätzte 6% der älteren Bevölkerung (> 50 Jahre). Des Weiteren ergaben Prädilektionsanalysen, dass einer von drei asymptomatischen 40-Jährigen in den folgenden zehn Jahren Knieschmerzen entwickeln wird. Einer von vier symptomatischen Patienten wird in einem Folgezeitraum von zehn Jahren eine deutliche Verschlechterung erfahren, und einer von elf wird einen gar orthopädisch/chirurgischen Eingriff benötigen.
Angesichts der hohen Prävalenz des Knieschmerzes und der potenziell daraus resultierenden gesundheitlichen Einschränkungen für die Betroffenen ist eine genaue Diagnostik des schmerzenden Kniegelenks notwendig. Genaue Kenntnisse um Anatomie, Physiologie, funktionelle Anatomie und Pathophysiologie des Kniegelenkes, das aufgrund seiner speziellen Anatomie und Physiologie ein sehr komplexes Gebilde mit komplizierter Mechanik darstellt, sind hierfür unerlässlich. Die schematische Darstellung eines Kniegelenkes in Abbildung 1 soll die Komplexität des Systems verdeutlichen, bei dem nahezu alle am Gelenkaufbau beteiligten Strukturen als Ursache für Knieschmerzen bzw. Erkrankungen des Kniegelenkes in Frage kommen. Die sich daraus ergebenden differenzialdiagnostischen Möglichkeiten sind in der Tabelle dargestellt.

 

 

Schritte zur Abklärung

Bei der Abklärung von Knieschmerzen sollte man sich vor Augen halten, dass trotz hochtechnisierter Medizin eine ausführliche Anamnese Basis für jegliche weiterführende Diagnostik ist.

Anamnese

Allein das Erheben des Alters grenzt die Zahl der Differenzialdiagnosen bereits erheblich ein (Abbildung 2). Darüber hinaus bietet die Erhebung vorangegangener Ereignisse (beispielsweise Sportverletzungen), von Begleiterkrankungen, einer genauen Schmerzlokalisation, Symptomdauer, Schmerzcharakter, Schwellung und einer Beteiligung anderer Gelenke wichtige Informationen und gibt differenzialdiagnostische Hinweise.

 

 

Klinische Untersuchung

Die klinische Untersuchung selbst hat bereits mit Eintreten des Patienten in das Untersuchungszimmer begonnen. Hier gewinnt man einen ersten Eindruck durch Beurteilung von Gangbild, Nutzung von Gehhilfen sowie Belastbarkeit des Beines beim Ausziehen der Kleidung. Weiterführend beurteilt man den zu Untersuchenden im Stehen, von vorne, hinten und von den Seiten. Die ersten Blicke geben Aufschluss über Achsenstellung, Beinlängenunterschiede, Zustand der Muskulatur, der Haut (Rötung, Schwellung, Blässe, Effloreszenzen, Narben), Varizen u. a. Nun folgt die Inspektion im Liegen, wobei hier zuerst auf die Kniegelenkkontur mit dem typischen Relief durch Mm. vastus med. und lat., patella und die Einziehungen neben dem Lig. patellae sowie dem unter dem Ligament befindlichen Hoffaschen Fettkörper Augenmerk gelegt wird. Insbesondere im Seitenvergleich kann hier rasch eine Schwellung und Ergussbildung identifiziert werden. Ebenso im Seitenvergleich begutachtet man den M. quadriceps in Ruhe und bei Anspannung und erkennt gegebenenfalls Muskelmassenminderung als Hinweis auf längerfristige Schonung bzw. Dellen bei ausgeheilten Muskelfaserrissen. Lokalisierte Schwellungen in Höhe des Gelenkspaltes weisen auf ein Meniskusganglion hin, während knöcherne Vorsprünge an Femurkondylen oder Tibiakopf bei Exostosenkrankheit gefunden werden. Bei schwerer Gonarthrose sind gelegentlich sogar Osteophyten erkennbar. Durch Strecken des Beines und nachfolgende Beugung wird vor allem die Kraftentfaltung des großen Oberschenkelstreckermuskels überprüft, aber auch die Lage der Patella, die physiologisch frei in ihrem Lager verläuft.

Die nachfolgende Palpation des Kniegelenkes dient zur Beurteilung der Strukturen (Knochen, Bänder, Weichteile) sowie zur Schmerzprovokation durch Druck oder Verschieben. Zum Ausschluss einer Entzündung oder eines Gelenkergusses wird die Haut über der Patella betastet. Überwärmung der Patella im Vergleich zur Unter- und Oberschenkelmuskulatur kann indirekt Hinweis auf Entzündungsreaktionen im Kniegelenk geben (Zeichen nach Fries). Direkte Hinweise auf einen Kniegelenkerguss gibt die “tanzende Patella”. Bei gestrecktem Kniegelenk wird mit der einen Hand der obere Recessus von kranial her, mit der anderen Hand der übrige Gelenkraum ausgestrichen und dann mit dem Zeigefinger die Patella gegen die Trochlea femoris gedrückt. Beim Vorliegen eines intraartikulären Ergusses “tanzt” die Patella auf dem Flüssigkeitskissen. Das Zeichen ist allerdings erst bei größeren Gelenksergüssen von ca. 50 ml positiv. Ein etwas sensitiveres Zeichen (ab einer Flüssigkeitsmenge von ca. 10 ml positiv) ist das “bulge sign”. Durch Druck auf den Erguss auf der einen Seite unterhalb der Patella wird auf der anderen Seite eine Vorwölbung sichtbar, ggf. lässt sich eine Flüssigkeitswelle durch einseitiges Klopfen auf den Erguss erzeugen. Weiters kann bei entzündlich-rheumatischen Erkrankungen und als Traumafolge ein Erguss in der Bursa praepatellaris gefunden werden. Eine zystoide Ausstülpung der Gelenkkapsel (Baker-Zyste), als Folge eines Gelenkergusses, zwischen medialem Gastroknemiuskopf und M. semimembranosus (Locus minoris resistentiae) ist häufig als fluktuierende Schwellung tastbar.
Ebenso abgetastet und auf Schmerzfreiheit geprüft werden die Seitenbänder an ihrem Ansatz und die Menisci in ihrem Verlauf von ventral nach dorsal entlang des Gelenkspaltes. Die Gelenkflächen des medialen und lateralen Femurkondylus werden in Flexionsstellung des Kniegelenkes erfasst und auf schmerzhafte Punkte überprüft. Zeichen für Knorpelläsion und Arthrose wären Krepitation (Reiben) im Femoropatellar- und Femorotibialgelenk bzw. eine knöcherne Verbreiterung der Tibiakonsole und der Femurkondylen. Hinweis auf Knorpelläsion/Arthrose im Femoropatellargelenk gibt das Zohlen-Zeichen.
Hier wird mit einer Hand die Patella fixiert und distalisiert. Beim vorsichtigen Anspannen des M. quadriceps kommt es zu einem retropatellaren Anpressschmerz (Zohlen-Zeichen positiv).

Die Funktionsüberprüfung des Kniegelenkes umfasst eine Vielzahl von Tests, die vor allem Aufschluss über Läsionen im Kapselbandapparat und Meniskus geben. Die Untersuchungen umfassen die Prüfung des Bewegungsumfanges, des Streckapparates, der Seitenstabilität (Abduktions- und Adduktionstest (Valgus- und Varusstress) zur Prüfung des medialen und lateralen Kapselbandapparates/Seitenbandes). Die Kreuzbänder werden anhand der “vorderen und hinteren Schublade” geprüft, wobei der Lachman-Test als etwas sensiblerer Test zur Untersuchung des vorderen Kreuzbandes gilt. Bei der Meniskusdiagnostik wird auf Läsionen des Außenmeniskus, des Meniskusvorder- und -hinterhorns geachtet. Hinweisgebend sind die Zeichen nach Steinmann I und II, McMurray und Payr.

Laborchemische Befunde

Durch Anamnese und physikalische Untersuchung ergibt sich in den meisten Fällen bereits ein Verdacht auf das Vorliegen einer bestimmten Erkrankung, den man in weiterer Folge durch Heranziehen von laborchemischen Befunden erhärten kann. Insbesondere bei entzündlichen Gelenkerkrankungen kann die Erhebung von Entzündungsparametern/Akutphaseparametern (C-reaktives Protein, Blutsenkungsgeschwindigkeit, Leukozytenzahl, Fibrinogen etc.) im Serum aufschlussreich sein. Während man bei der Gonarthrose, häufig auch bei bestehendem Gelenkerguss, in der Regel keine Erhöhung der Entzündungswerte im Labor sieht, so finden sich bei der rheumatoiden Arthritis, der Gicht, den seronegativen Spondylarthropathien und der septischen Arthritis vielfach über die Referenzbereiche erhöhte Akutphaseparameter, als Hinweis für ein aktives inflammatorisches Geschehen. Harnsäurewerte über dem Normbereich sind bei entsprechender Klinik hinweisgebend auf eine Urikopathie bzw. bei chronischem Verlauf auf eine Arthritis urica. Unter den immunologischen Parametern macht in erster Linie die Bestimmung von antinukleären Antikörpern, dem Rheumafaktor, Antikörpern gegen citrullinierte Peptide/Proteine oder des Antigen HLA-B27 Sinn.
Bei Verdacht auf M. Reiter/reaktive Arthritis sollte ein Urogenitalabstrich zum Ausschluss einer Besiedelung mit pathogenen Keimen, wie Chlamydien, veranlasst werden. Eine Kniegelenkpunktion mit Aspiration von Gelenkflüssigkeit wird durchgeführt, um Material für diagnostische Zwecke zu gewinnen. Dabei erlauben Menge, Zusammensetzung und Aussehen (klar, trüb, blutig, putrid, zellreich) der Gelenkflüssigkeit Rückschlüsse auf die Ursachen eines Gelenkergusses. Bei der Diagnose der Gicht kommt der Arthrozentese eine besondere Bedeutung zu, da die definitive Diagnosestellung letztlich vom Nachweis von Uratkristallen in der Synovialflüssigkeit abhängt.

Radiologische Untersuchungen

Zusätzliche radiologische Untersuchungen runden die Abklärung ab. Basierend auf den Befunden der klinischen Untersuchung kann nun unterstützend eine richtungweisende Radiodiagnostik erfolgen. Die konventionelle Röntgenuntersuchung findet vor allem zur Beurteilung von Frakturen, Patellaluxationen und dem Nachweis arthrotischer Veränderungen ihren Einsatz. Die Computertomographie des Kniegelenkes wird zum Frakturausschluss bzw. zur Evaluierung des Frakturausmaßes (Tibiakopffrakturen, Hoffa-Fraktur, perkondyläre Femurfraktur) herangezogen, während die Magnetresonanztomographie in der Diagnostik von Meniskusläsion, Kapsel-Band-Läsion oder chondralen/osteochondralen Läsionen ihren festen Platz hat. Zudem hat sich die Kernspintomographie im Falle der Gonarthritis bei der Darstellung einer Synovitis und der Diskriminierung zwischen akuter oder chronischer Entzündung bewährt.

Resümee

Letztendlich ist es unser Ziel, mit den angeführten standardisierten Untersuchungsgängen, unter Kenntnis der Krankheitsbilder sorgfältig zu einer Diagnosefindung zu kommen, um Patienten mit Knieschmerz zeitnahe einer spezifischen Therapie zuzuführen.

Tab.: Häufige und weniger häufige Differenzialdiagnosen des Knieschmerzes
Trauma (entzündliche) Gelenkerkrankungen mechanische Ursachen
Überlastungssyndrom
andere Ursachen
Kreuzbandverletzung Rheumatoide Arthritis Tendinitis Tumoren/Metastasen
Meniskusverletzung Juvenile idiopathische Arthritis Bursitis Septische Arthritis
Knorpelverletzung Seroneg. Spondylarthropathie Morbus Osgood-Schlatter Osteomyelitis
Bursitis Gicht Sinding-Larsen-Johansson-Syndrom Osteonekrose
Fraktur Pseudogicht Osteochondritis dissecans Chondropathia patellae
Osteoarthrose Fraktur Synoviale Chondromatose
Pigmentierte villonoduläre Synovitis
Fuß-, Hüft-, Wirbelsäulen-Schmerz
Morbus Perthes