Editorial 1/2012: Realitätsverweigerung – Qualitätsjournalismus made in Austria

Eine aktuelle „Serienberichterstattung“ zeigt allerdings, wie sehr Journalisten, denen eine vermeintliche Sensation vor ethischen Überlegungen geht, in der Lage sind, unseren Berufsstand in die Defensive zu drangen. Bereitwillige Unterstützung finden sie durch Politiker, Ombudsmanner, Spitalsdirektoren, Magistratsbeamte etc., die, statt die Tatsachen objektiv zu bewerten und fachlich fundierte Statements abzugeben, die Journalisten gegen besseres Wissen mit ärztefeindlichen Statements futtern.

Doch zur Sache selbst: Es ist wohl Allgemeinwissen, dass die Rate an Fehlgeburten bezogen auf die Gesamtzahl aller Schwangerschaften bei über 15 % liegt. Dieser Prozentsatz bedeutet, dass in Osterreich jährlich etwa 12.000 Fehlgeburten zu verzeichnen sind; allein in Wien über 2500. In 50–70 % aller sporadischen Fehlgeburten im I. Trimenon werden numerische Chromosomenanomalien nachgewiesen. Als weitere Ursache von Fehlgeburten wird die sog. Lutealinsuffizienz mit fehlerhafter Implantation verantwortlich gemacht, also ein Zustand, der ebenfalls therapeutisch nicht zu korrigieren ist. In diesem Kontext soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass uns wohl bewusst ist, welch psychologisches Trauma für die Betroffene eine Fehlgeburt darstellt. Diesem Umstand wird auch dadurch Rechnung getragen, dass an der Universitätsklinik für Frauenheilkunde Wien die medizinische Betreuung durch psychologische Beratung ergänzt wird.
Kurz zum tatsachlichen Ablauf der Ereignisse, die so medienwirksam waren.

  • 11. 1. 2012: Sandra W. sucht wegen Blutungen im I. Trimenon das Krankenhaus Göttlicher Heiland auf, es wird eine Untersuchung durchgeführt und die Patientin mit der Anweisung auf häusliche Bettruhe und entsprechender Medikation (?) wieder nach Hause geschickt. Sie erhalt einen Termin zur Geburtsanmeldung und zur Kontrolluntersuchung am nächsten Tag. Dokumentiert wird eine „leichte Blutung“.
  • 12. 1. 2012: Die Patientin sucht das AKH zur Geburtsanmeldung auf. Im AKH wird sie aufgrund des ausgefeilten Triagemodus der Klinik nicht als Risikopatientin eingestuft, es wird ihr vielmehr empfohlen, die vorgesehene Geburtsanmeldung im KH Göttlicher Heiland vorzunehmen. Darauf gibt die Patientin an, Blutungen zu haben – über das Ausmaß gehen die Darstellungen der Patientin und der betreuenden Fachärztin auseinander. Unmittelbar nach dem Besuch im AKH begibt sich die Patientin noch in das Krankenhaus Rudolfstiftung und wird dort um 13.10 Uhr administriert. Allerdings wird sie ohne Arztkontakt nach Hause geschickt und zur Geburtsanmeldung für 18. 1. terminisiert.
  • 13. 1. 2012: Schon am nächsten Tag sucht die Patientin neuerlich wegen bräunlicher Abgange die Rudolfstiftung auf. Sie wird stationär aufgenommen und am 16. 1. mit der Anweisung auf Schonung wieder entlassen.
  • 18. 1. 2012: Nackentransparenzmessung im Krankenhaus Rudolfstiftung, es besteht nach wie vor eine leichte Blutung, eine Kontrolle in einer Woche wird vereinbart.
  • 21. 1. 2012: Neuerliche Blutung, Wiederaufnahme im KH Rudolfstiftung
  • 22. 1. 2012 (= 11 Tage nach Besuch im AKH): Spontanabort.

So viel zu den schicksalhaften Fakten. Was macht allerdings der „Qualitätsjournalismus“ daraus? Es erscheint ein zweiseitiger Bericht über angebliche Versäumnisse und Fehler im AKH, der mit dem Wunsch der Patientin endet, man möge sie nun endlich zur Ruhe kommen lassen. Diesem Ersuchen wird allerdings in der Folge keineswegs Rechnung getragen, vielmehr wird im Tagesrhythmus über diesen „Fall“ berichtet und Stellungnahmen führender Persönlichkeiten veröffentlicht, ergänzt durch die Aufzahlung weiterer Missstande im AKH.
Von universitärer Seite wird vorbildlich reagiert und im Rahmen einer Pressekonferenz von Rektor Schutz ein internationales Gutachten, erstellt vom Präsidenten (!) der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, Herrn Prof. Friese, präsentiert. „Prof. Friese weist ausdrücklich darauf hin, dass der Verlust des Kindes in dieser frühen Phase der Schwangerschaft ein häufiges Phänomen ist, von dem fast jede zweite Frau im gebärfähigen Alter betroffen ist. Bedauerlicherweise gibt es bis zur 24. Schwangerschaftswoche keine medikamentöse Therapie.“
Auf Basis dieser Erkenntnisse stellt Prof. Friese fest, „dass es zu keinem ärztlichen Fehler bei der Behandlung von Sandra W. gekommen ist“.
Der einschlägigen „Qualitätszeitung“ ist diese Pressekonferenz natürlich eine weitere ganze Seite wert mit der Überschrift „Neues Gutachten soll AKH entlasten“ (es stellt sich in diesem Kontext allerdings die Frage, ob es ein altes Gutachten gibt?), und es wird weiters festgehalten, dass der Patientenanwalt so seine Zweifel am Gutachten hat! In einem Aufwaschen wird noch von einem zweiten Fall von Fehlgeburt (außerhalb von Wien) berichtet, bei etwa 12.000 Fehlgeburten jährlich in Osterreich gibt es ja auch genug zu berichten.

 

Sehr geehrte Frau Kollegin,
sehr geehrter Herr Kollege,
es soll nochmals festgestellt werden, dass uns allen bewusst ist, welche psychische und physische Belastung eine Fehlgeburt darstellt. Festzuhalten ist allerdings auch, dass es keine suffiziente Therapie bei drohender Fehlgeburt gibt – und auch keine Therapie geben kann.
Statt aber klarzustellen, dass es sich um ein schicksalhaftes Ereignis handelt, werden nun Versäumnisse von ärztlicher Seite und organisatorische Mangel, organisatorische Anderungen versprochen und Schuldige gesucht. Dieses „Abputzen“ in einer schicksalhaften Situation fordert sicherlich das Vertrauen in die Medizin und in die Spitaler, nicht zuletzt geschieht es aber auf Kosten der Patientinnen, und das ist der eigentliche Skandal:
Die Ärzteschaft wird von ahnungslosen, sensationsgierigen Journalisten getrieben, also von einer Berufsgruppe, der Schlagzeilen anscheinend wichtiger als seriose Recherche ist und hohe Repräsentanten unseres Gesundheitswesens und der Verwaltung machen bei diesem Spielen mit.
Wie hat es allerdings die Zeitung „Die Presse“ vor kurzem so zutreffend ausgedruckt: „Wir sind Lugner“. Zu unserer Instinktauslosung gehört auch ein angeborenes Betroffenheits- und Empörungsbedürfnis und wir warten auf Auslöser, um diese zu befriedigen“.
Dazu ist anscheinend jedes Mittel recht!

PS: Entsprechend einem rezenten Kommentar der stellv. Chefredakteurin der Zeitung scheint es allerdings um etwas ganz anderes als um das Schicksal der Patientin zu gehen. Sie schreibt: „Das AKH ist zum Spielball politischer Interessen zwischen Stadt und Bund geworden. Dafür werden sogar Patientenschicksale instrumentalisiert.“

Mit freundlichen Grüßen