Assoz. Prof. Dr. Hans Dieplinger
Österreichische Atherosklerosegesellschaft
Kardiovaskuläre Erkrankungen stellen in Österreich sowie in anderen westlichen Industrieländern die häufigste Todesursache dar. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass LDL-Cholesterin (LDL-C) an der Pathogenese der Atherosklerose beteiligt ist, die den klassischen kardiovaskulären klinischen Endpunkten wie Myokardinfarkt und Schlaganfall zugrunde liegt.1 Epidemiologische Studien zeigen übereinstimmend eine Korrelation des Serum-LDL-C mit Myokardinfarkt und kardiovaskulären Todesfällen.2 Studien mit Mendel’scher Randomisierung konnten nachweisen, dass die genetisch determinierte Regulation des LDL-C mit klinischen kardiovaskulären Ereignissen, insbesondere dem Risiko für Myokardinfarkte, korreliert.3 Damit konnte der Beweis für den kausalen Zusammenhang zwischen erhöhten LDL-C-Werten und kardiovaskulären Erkrankungen erbracht werden.
Joseph Goldstein und Michael Brown legten in den 1970er Jahren mit ihren bahnbrechenden Erkenntnissen zur Aufnahme von LDL-Partikeln über rezeptorvermittelte Endozytose nicht nur den Grundstein für unser Verständnis eines damals völlig neuen zellbiologischen Vorganges der Aufnahme von Liganden über Zellmembranen4, sondern klärten damit auch den molekulargenetischen und zellulären Mechanismus auf, der bei den meisten von familiärer Hypercholesterinämie (FH) betroffenen Individuen für diese Stoffwechselstörung verantwortlich ist, nämlich Mutationen im LDL-Rezeptorgen.5 Mittlerweile sind mehr als 1.700 verschiedene Mutationen im Gen des LDL-Rezeptors bekannt, die zu verschieden starken Ausprägungen von FH führen und für ca. 75 % aller FH-Fälle verantwortlich sind.6, 7 Die restlichen 25 % werden durch Mutationen im Gen für Apolipoprotein B (dem Trägerprotein für LDL und damit Hauptliganden des LDL-Rezeptors), PCSK9, LDL-Rezeptor-Adapter-Protein (LDLR-AP) sowie Mutationen in noch unbekannten Genen verursacht, beziehungsweise sind polygenen Ursprungs. Die klassische Form der FH folgt einem autsomal dominanten Erbgang, eine Ausnahme bilden die seltenen Mutationen im LDLR-AP, die autosomal rezessiv vererbt werden. Die extrem hohe Anzahl an FH-Mutationen erklärt auch, warum die meisten homozygoten FH-Patienten eigentlich compound-heterozygot sind (d. h. 2 verschieden mutierte Allele tragen); Ausnahmen bilden natürlich Patienten aus Kulturen, in denen die Eltern häufig blutsverwandt sind.
FH ist mit einer Prävalenz von 1 : 500 bis 1 : 250 eine der häufigsten monogenen Stoffwechselstörungen und ist, bedingt durch den reduzierten oder defekten Abbau von LDL, durch eine Erhöhung v. a. von LDL-C im Serum gekennzeichnet (LDL-C bei Heterozygoten 190–450 mg/dl, bei Homozygoten > 400 mg/dl), die, wie oben beschrieben, Ursache frühzeitiger kardiovaskulärer Ereignisse ist.8 Diese Ereignisse (Herzinfarkte, Schlaganfälle etc.) können bei unbehandelter homozygoter FH bereits zu Todesfällen im Kindes- und Jugendalter führen. Leider ist FH in Österreich, wie in vielen anderen Ländern auch, stark unterdiagnostiziert. Bei einer geschätzten Prävalenz von ca. 1 : 300 sind in Österreich bis zu 30.000 Personen von FH betroffen.
Die vorliegenden Prävalenzdaten, verbunden mit unserem Wissen über den Mechanismus der Entstehung von FH und der seit 30 Jahren möglichen (und seit kurzem durch die Entwicklung neuer Lipidsenker dramatisch verbesserten) kurativen Behandlungsmöglichkeit von FH, lassen es vollkommen unverständlich erscheinen, warum es in den meisten Ländern keine oder nur unvollständige Registerdaten für FH gibt. Das erklärt auch die Tatsache, dass mehr als 90 % der FH-Patienten in Österreich weder diagnostiziert noch adäquat therapiert sind. Eine löbliche Ausnahme bilden hier die Niederlande, die bereits seit 25 Jahren ein landesweites FH-Register aufbauen und bzgl. Erfassung der FH weltweit an der Spitze stehen (Abb.).9
Die Diagnose FH wird in den meisten Fällen erst nach dem Auftreten von schweren Folgeerkrankungen gestellt. Durch eine frühzeitige Therapie mit cholesterinsenkenden Medikamenten kann das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen jedoch vermindert werden. Mittels Kaskadenscreenings können, ausgehend von einem betroffenen Indexpatienten, erstgradige und zweitgradige Verwandte untersucht und nach erfolgter Diagnose einer frühzeitigen, präventiven Behandlung zugeführt werden.
In anderen europäischen Ländern wurden bereits erfolgreich Präventionsprogramme in Form von Kaskadenscreenings initiiert. Daher hat die österreichische Atherosklerosegesellschaft (AAS) im Raum Wien, Graz, Innsbruck und Feldkirch vor 5 Jahren ein Projekt begonnen, um ein Kaskadenscreening zu etablieren, mit dem Ziel eines Aufbaus eines landesweiten und flächendeckenden Patientenregisters. Das Register kooperiert eng mit dem internationalen FH-Register der European Atherosclerosis Society (FH-SC).
Bei der Durchführung des Kaskadenscreenings und beim Aufbau des Patientenregisters ist die Hilfe von niedergelassenen Ärzten und Spezialambulanzen unerlässlich. Die Ärzte sollen anhand der vorliegenden Laborwerte und der Familienanamnese ihrer Patienten mittels des sogenannten Dutch Lipids Clinics Network Score (DLCN, Tab.) mögliche FH-Betroffene identifizieren und anhand von Ein- und Ausschlusskriterien in die Studie einschließen. Patienten müssen mindestens zwei der Ein-schlusskriterien erfüllen. Die Einschlusskriterien umfassen LDL-C-Konzentration > 190 mg/dl, Gesamtcholesterin-Konzentration > 310 mg/dl, frühzeitige Herz-Kreislauf-Erkrankung, Sehnenxanthome, nahe Verwandte mit Hypercholesterinämie oder frühem Myokardinfarkt. Nach Einschluss werden die Patienten von den Studienassistenten zur Familien- und Eigenanamnese befragt. Gemeinsam mit den Patienten sollen möglicherweise ebenfalls betroffene Verwandte identifiziert werden. Der Patient wird gebeten, diese Verwandten über die Studie zu informieren, und erhält Informationsmaterial über die Erkrankung und das Projekt. Eine direkte Ansprache der Verwandten durch die Studienassistenten erfolgt nicht. Die FH-Diagnose wird beim Indexpatienten und den untersuchten Verwandten (auf freiwilliger Basis) mittels genetischer Analyse abgesichert. Dabei werden die Gene für den LDL-Rezeptor, ApoB-100, PCSK9 und LDLR-AP untersucht und die Patienten humangenetisch beraten. Ärzte und Patienten erhalten eine Rückmeldung über die Diagnose und Behandlungsoptionen. Die Entscheidung über weitere diagnostische Maßnahmen und Therapieänderungen trifft in allen Fällen der behandelnde Arzt. Die Studie wurde in allen österreichischen Bundesländern den Ethik-Kommissionen zur Begutachtung vorgelegt und bewilligt.
Das Projekt wird in Kooperation mit der FH-Patientenorganisation FHchol Austria durchgeführt und von Industriepartnern (Amgen®, Sanofi-Aventis, Alexion®, Pfizer, Fresenius) bzw. öffentlichen und privaten Förderstellen (Tiroler Landesregierung, Österr. Herzfonds) finanziell unterstützt. Weitere Unterstützungen durch öffentliche Förderstellen werden angestrebt.
Derzeit (Stand 02/2021) wurden insgesamt fast 900 Patienten mit diagnostizierter FH in das Register aufgenommen. Die bisher erhobenen (anonymisierten) Daten wurden auch an gesamteuropäische FH-Register-Konsortien zwecks gemeinsamer Publikation in renommierten internationalen Fachzeitschriften weitergeleitet.11–15
Durch dieses Projekt sollen Erkenntnisse über den Versorgungs- und Behandlungsstatus von FH-Betroffenen in Österreich gewonnen werden. Mittel- und langfristig soll dadurch die Diagnoserate für FH von derzeit weniger als 5 % auf 50 % gesteigert werden und der Behandlungsstatus und damit das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen der betroffenen Patienten verbessert werden.