Round-Table-Diskussion – Spitalsentlastung durch Gruppenpraxen?

Ärzte in Gruppenpraxen: Gleichberechtigt und freiberuflich

„Seit 25 Jahren fordert die Ärztekammer die Möglichkeit der Verpartnerung von Ärzten, nun ist es endlich Realität“, erläuterte Dr. Thomas Holzgruber, Kammeramtsdirektor der Ärztekammer Wien. Seit 2001 besteht für niedergelassene Ärzte die Möglichkeit, „offene Gesellschaften“, seit dem Frühjahr 2010 auch die GmbHs zu gründen und damit gemeinsam Verträge mit den Sozialversicherungsträgern abzuschließen. Anders als Ambulatorien, die als Krankenanstalten gelten und damit dem Krankenanstaltenrecht unterliegen, können Gruppenpraxen nur von Ärzten – d.h. keinen anderen Berufsgruppen oder Personen – gegründet und geführt werden. Die „verpartnerten“ Ärzte üben ihren Beruf gleichberechtigt und freiberuflich – und nicht angestellt – aus. Mittlerweile gibt es in Wien ca. 60 Gruppenpraxen mit Kassenvertrag, weitere 25 sind in Gründung. Neben den diagnostischen Fächern Radiologie und Labormedizin sind es vor allem internistische, orthopädische, zunehmend auch pädiatrische Praxen. Darüber hinaus gibt es auch vier Wahlgruppenpraxen. Diese sind jedoch schwieriger zu gründen. Hier sei der Wille des Gesetzgebers zu erkennen, den Schwerpunkt auf den kassenärztlichen Bereich und die Basisversorgung zu legen, um zur Spitalsentlastung beizutragen, wie Holzgruber betont.

Vorteile für Patienten und Ärzte

Der Vorteil für Patienten liegt insbesondere in den längeren Öffnungszeiten (30 Stunden bei zwei Ärzten, 40 Stunden bei drei Ärzten) und der ganzjährigen Erreichbarkeit. Entscheidend für den Arzt: Die Honorierung ist gleich wie in Einzelpraxen. Das gilt jedoch nur für fachgleiche Gruppenpraxen. Bei fächerübergreifenden Praxen – von denen es derzeit noch keine gibt – hat sich die Kasse mit Fallpauschalen durchgesetzt, deren Details sind aber noch nicht verhandelt, so Holzgruber.
Dr. Martina Wölfl-Misak ist Pionierin der ersten Stunde und betreibt seit dem Jahr 2000 – damals noch als Pilotprojekt – mittlerweile mit zwei weiteren Kollegen eine internistische Gruppenpraxis im 20. Bezirk in Wien. Die Vorteile der Gruppenpraxis liegen für Wölfl, die zuvor als Wahlärztin drei Jahre lang eine Einzelpraxis betrieben hatte, vor allem im fachlichen Austausch und der Möglichkeit, Patienten im Team besprechen zu können. „Vieles entscheidet man allein, aber eine zweite Meinung ist auch für Patienten wichtig.“
Allgemeinmedizinerin Dr. Barbara Degn bezeichnet Gruppenpraxen als ideal für den Primärversorgungsbereich. Sie ist überzeugt, dass die Entwicklung in diese Richtung gehen wird. Europaweit seien internistische Einzelpraxen heute bereits eine Seltenheit. Insbesondere junge Kollegen würden zunehmend in Gruppenpraxen drängen. Ziel wäre, auch nichtärztliche Berufsgruppen, etwa Sozialarbeiter einzubeziehen, so Degn.

Wien ist in Sachen Gruppenpraxen den anderen Bundesländern einen Schritt voraus, möglich wurde dies durch die Einigung aller Systempartner: Ärztekammer, WGKK und Gemeinde Wien. „Die Wiener Gebietskrankenkasse ist hier Vorreiter im Kreise der Sozialversicherungen, wie Mag. Jan Pazourek, Stv. Generaldirektor der WGKK, betont. Neben den evidenten Vorteilen für Patienten sowie „für jene Ärzte, die in Teams arbeiten wollen und können“, verweist Pazourek auch auf die Sicht der Beitragszahler, für die Gruppenpraxen zumindest nicht teurer als Einzelpraxen kommen.

Entlastung für Spitalsambulanzen?

Hinter der „seit Jahrzehnten gebetsmühlenartig widerholten Feststellung“, Gruppenpraxen könnten Spitalsambulanzen entlasten, erkennt Pazourek mehrere Grundannahmen, die es zu hinterfragen gilt: „Erstens ist das Gesundheitswesen kein automatisch kommunizierendes Gefäß. Wir wissen, dass das Gesundheitswesen anders funktioniert.“ Zweitens hinterfragt er das Bild der überlaufenden Spitalsambulanzen. Tatsächlich sei seit 1997 ein Frequenzrückgang in den Ambulanzen zu verzeichnen und die Frequenz im niedergelassenen Bereich stärker gestiegen. Hier wird ihm von Mag. Roland König, Magistrat der Stadt Wien, widersprochen: Der vermeintliche Frequenzrückgang sei auf eine geänderte Zählweise zurückzuführen, tatsächlich würde die Ambulanzfrequenz nach wie vor, wenn auch nicht mehr so extrem wie früher steigen.
Und drittens impliziert für Pazourek das immer wieder genannte „Ziel der Spitalsentlastung“ die Annahme, dass jegliche Leistung im niedergelassenen Bereich billiger zu erbringen sei. „Es gibt Leistungen, die in Ordinationen günstiger zu erbringen sind und umgekehrt“, appelliert er für eine differenzierte Sicht der Dinge. Wichtig sei es, in die Prozesse zu schauen und zu wissen: „Wer steuert Patientenkarrieren?“ – ein Argument, das auch der Vertreter des Krankenanstaltenträgers, Mag. Roland König, ähnlich sieht. Die Fragen, die zu klären sind: „Haben wir noch die richtigen Strukturen, bieten wir an der richtigen Stelle Leistungen in richtiger Qualität und Quantität an?“ Das betreffe auch die Schnittstelle zu sozialen Diensten und zur Pflege. Es gelte – gemeinsam! – ein System zu finden, in dem die Leistungen verstärkt den idealen Versorgungsstufen zugewiesen werden. „Basis für eine Verbesserung ist jedoch die detaillierte Planung der im öffentlichen System Arbeitenden inkl. Wahlarztpraxen und die Abstimmung auf den konkreten Bedarf.“ Zwar wurden die Diskutanten nicht müde, das Erreichte und die gelungene Einigung aller Wiener Player beim Thema Gruppenpraxen zu würdigen. Unerreichtes gibt es dennoch auch hier. Ein Beispiel: keine Wochenendversorgung durch Gruppenpraxen. „Diese ist nur am Veto der Sozialversicherung gescheitert“, so Holzgruber. Als große Problemfelder hat man auch Erstversorgung und Pädiatrie erkannt. Verschiedene Ideen gibt es, zur konkreten Umsetzung braucht es aber die Einigung aller Partner …

Brauchen wir mehr Triage?

Unter lebhafter Beteiligung der im Publikum anwesenden Ärzte wurden Möglichkeiten der Triage diskutiert, z.B. Modellprojekte aus anderen Bundesländern, niedergelassene Triageärzte in den Krankenanstalten zu etablieren.
Degn sprach hier eines der „althergebrachten Rechte des Österreichers “ an: nämlich selbst zu entscheiden, auf welcher Stufe ins Gesundheitssystem eingestiegen wird.
Wie Dr. Christine Scholten, Internistin, betont, ist das, was niedergelassene Ärzte tagtäglich tun, nichts anderes als Triage. „Allgemeinmediziner triagieren vor Fachärzten, und Fachärzte triagieren vor dem Spital. Die kommunizierenden Gefäße können nicht funktionieren, weil beide überlaufen!“ Beide Seiten seien überlastet. Nicht nur die angesprochenen „Selbstzuweiser“ werden von den Spitälern meist zurückgeschickt, oft sind es sogar zugewiesene Patienten.
Auch Wölfl beschreibt eine Auslagerung spezialisierter Leistungen vom Spital in den Gruppenpraxen-Bereich: So werden ihr beispielsweise von den Ambulanzen Mammakarzinom-Patientinnen zur unter Therapie notwendigen Herz-Echo-Kontrolle ebenso zugewiesen wie Nierentransplantierte.
Weitgehend Einigkeit bestand unter den Diskutanten über die Notwendigkeit der Bedarfsplanung. An dieser fehlt es jedoch vielerorts. Ein Beispiel, das Dr. Ursula Klaar, die gemeinsam mit Dr. Scholten eine internistische Gruppenpraxis betreibt, ansprach: Zu etlichen Untersuchungen – etwa der Nuklearmedizin – müssten Patienten allein schon deshalb ins Spital überwiesen werden, weil diese im niedergelassenen Bereich nicht honoriert werden und damit auch nicht erbracht werden können. Brauchen wir mehr Geld? Es liege nicht am Geld, sagt König, sondern an fehlender Abstimmung, denn für viele Leistungen werde im System doppelt bezahlt. Dr. Michael Mühl, Labormediziner, kann das aus seiner Sicht bestätigen. Seit zehn Jahren biete er den Spitälern an, seine Befunde EDV-kompatibel zu übernehmen. „Mit fadenscheinigen Begründungen“ sei dieser Vorschlag bislang abgelehnt worden – mit dem Ergebnis der Doppelbefundung.

Teamfähigkeit ist wichtig!

Wirtschaftliche Aspekte für den individuellen Arzt wurden von Sabine Schröder vom Zentrum für Gesundheitsberufe der Bank Austria angesprochen. Das wirtschaftliche Risiko für beide Seiten – Ärzte wie Banken – sei bei Gruppenpraxen geringer als bei Einzelpraxen. In den meisten Fällen ist bei einer GmbH auch die Bonität besser als bei Einzelärzten, was mit besseren Zinssätzen und leichter zugänglicher Finanzierung verbunden ist. „Die größere wirtschaftliche Einheit ist auch für Banken interessanter.“ Banken stünden Gruppenpraxen daher sehr positiv gegenüber. Als nennenswertes Risiko verweist sie jedoch auf die möglichen menschlichen Konsequenzen einer Verpartnerung. „Teamfähigkeit ist Voraussetzung.“ Auch Holzgruber sieht es ähnlich: „Das größte Risiko sind Sie selbst.“ Die Parallele sieht er in der Ehe: „Man muss sich verstehen.“ Aus eigener Erfahrung sieht Wölfl das größte Risiko beim Personal. Hier gelte es Cliquenbildung zu verhindern. „In Gruppenpraxen geht es auch um Managementaufgaben über die Medizin hinaus.“

Was muss passieren, was muss sich ändern?

„Wir brauchen weniger Fokussierung auf Türschilder und Hardware als auf Ablauf und Prozesse“, so Pazourek. „Hier fehlt uns allen das Wissen!“ Und König betont, dass es für alle Beteiligten notwendig ist, über den eigenen Schatten zu springen. Degn fordert insbesondere in der Allgemeinmedizin eine Ausbildungsreform, weil besser ausgebildete Allgemeinmediziner mehr Patienten im niedergelassenen Bereich halten können. „Das von der ÖGAM gemeinsam mit der ÄK entwickelte Modell des Vertrauensarztes kann hier Zukunftsmodell sein.“ Wölfl propagiert, ein verpflichtendes Lehrpraxis-Jahr in die Ausbildung zu integrieren.

AutorIn: Susanne Hinger

Klinik 04|2011

Publikationsdatum: 2011-09-09