Chancen, Möglichkeiten und Grenzen der digitalen Medizin

Telemedizin, E-Health, ELGA – die Digitalisierung hat die Medizin längst erreicht. In Zeiten von Corona erfahren onlinegestützte Lösungen zusätzlichen Auftrieb und werden teilweise auch öffentlich finanziert. Univ.-Prof. Dr. Elske Ammenwerth ist Professorin für Medizinische Informatik an der Privaten Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik und Technik (UMIT) in Hall in Tirol. ARZT & PRAXIS hatte die Gelegenheit, mit Prof. Ammenwerth via Videokonferenz über Voraussetzungen, praktische Umsetzung und künftige Entwicklungen im Bereich digitaler Lösungen zu sprechen.

ARZT & PRAXIS: Frau Dr. Ammenwerth, wie sind Sie zu dem doch recht exotisch anmutenden Gebiet der Medizininformatik gekommen?
Univ.-Prof Dr. Elske Ammenwerth:
Ich komme aus einer Medizinerfamilie und habe ursprünglich Medizin studiert, nach dem Physikum aber entschieden, dass mich die Informationsverarbeitung in der Medizin mehr interessiert als die praktische Medizin. Ich habe dann an der Universität Heidelberg Medizininformatik  studiert.
Zur Gründung der UMIT (damals Universität für Medizinische Informatik und Technik) bin ich 2001 gemeinsam mit Prof. Reinhold Haux nach Hall in Tirol gekommen, um dort das Studium der Medizininformatik und auch den Forschungsraum aufzubauen.

Was sind die Schwerpunkte Ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit?
Wir forschen an Informationssystemen des Gesundheitswesens. Es geht um systematische Informationsverarbeitung im Gesundheitswesen, um E-Health- Anwendungen bzw. -Architekturen. Wir forschen auch viel zum Thema Evaluation:
Worin liegt der Nutzen von IT bzw. der Digitalisierung im Gesundheitswesen?
Ein weiterer Forschungsschwerpunkt ist E-Learning: Wie können onlinegestützte Lernszenarien erfolgreich gestaltet werden?

Wie ist die Situation der Bereiche Telemedizin und Digital Health in Österreich zu beurteilen?
Wir haben gerade einen Artikel zum Digitalisierungsgrad im Gesundheitswesen eingereicht, in dem 14 Länder miteinander verglichen werden. Bei der Verfügbarkeit elektronischer Patienteninformation liegt Österreich im Mittelfeld. Andere Länder, wie z. B. Finnland, sind hier viel weiter. Im Bereich der Telemedizin, die uns in Corona-Zeiten besonders interessiert, gibt es einige Pilotprojekte in Österreich, die in den letzten Jahren recht erfolgreich durchgeführt wurden bzw. weiterhin durchgeführt werden, wie z. B. das Telemonitoring chronisch kranker Patienten. Kritisch ist hier der Übergang in die Routineversorgung, und der hängt vor allem von der Finanzierung ab.
Ein Beispiel für ein Projekt, das in die Regelversorgung überführt werden konnte, ist das HerzMobil Tirol, ein integriertes Versorgungsprogramm für Herzinsuffizienz-Patienten mit einem großen Telemonitoring-Anteil. Hier ist unsere Universität auch als Evaluationspartner seit vielen Jahren beteiligt. Es gibt bislang nur wenige Projekte, die öffentlich finanziert und damit breit
verfügbar sind. Im aktuellen Regierungsprogramm ist allerdings festgehalten, dass telemedizinische Behandlung bestmöglich umgesetzt werden soll. Es sind also der politische Wille und das Bewusstsein vorhanden.

Welche Infrastruktur kann für telemedizinische Anwendungen genutzt werden?
Die Basis-Infrastruktur ist z. B. ELGA (Anm.: elektronische Gesundheitsakte), auf der entsprechende Dienste wie E-Medikation, E-Rezept, E-Impfpass oder E-Patientenverfügung aufbauen, die einen tatsächlichen Mehrwert bedeuten. Wir wissen, dass beispielsweise durch geringe Abstimmung zwischen verschiedenen Ärzten Patienten Medikamente in falscher Dosierung oder auch Medikamente, die miteinander interagieren, einnehmen. Das ist mitunter lebensgefährlich und vermeidbar. Deswegen ist es wertvoll, dass die Etablierung der E-Medikation in Österreich vergleichsweise früh begonnen hat.

Wird die aktuelle Situation die Etablierung der Telemedizin nachhaltig beeinflussen?
Davon gehe ich aus. Erstens merken wir ja, wie einfach Videokonferenzen funktionieren. Es können Gespräche, für die man früher weit gefahren, vielleicht sogar geflogen wäre, ganz einfach – auch von zu Hause aus – geführt werden. Es kommen momentan Lösungen zum Einsatz, mit denen sich früher nur Enthusiasten beschäftigt haben. Das ist in der universitären Lehre, im gesamten Geschäftsbereich mit den Videokonferenzen, aber auch im Gesundheitswesen mit Videosprechstunden, Online-Terminbuchungen etc. der Fall. In den letzten Wochen hat die öffentliche Hand teilweise zusammen mit privaten Anbietern ganz schnell Lösungen aus dem Boden gestampft, um Ärzten eine funktionierende Infrastruktur zu bieten. In dieser Geschwindigkeit wäre das vor Corona noch kaum denkbar gewesen. Damit dieses Engagement weitergeht, muss die größte Hürde genommen werden: die Finanzierung. Dann ist es für den Arzt durchaus interessant, eine Abendsprechstunde anzubieten. Und gerade Patienten, die verkehrstechnisch schlecht angebunden sind, profitieren von solchen Angeboten.

Muss Telemedizin verstärkt in die ärztliche Aus- und Weiterbildung integriert werden?
Ja, unbedingt! Wenn ein Arzt digitale Werkzeuge sinnvoll einsetzen möchte, erfordert das entsprechende Kompetenzen. Es braucht ein Grundverständnis für Datenschutz und -sicherheit, und dieses muss bereits im Studium vermittelt werden. Von einem Hausarzt kann man nicht erwarten, dass er sich in seiner Freizeit mit diesem relativ komplexen Thema auseinandersetzt. Aktuell kommen Medizinstudenten in Österreich im Wesentlichen nicht mit dem Thema Digitalisierung in Berührung – das kann nicht so bleiben. Der Arzt muss als kompetenter Ansprechpartner die Patienten auch hierzu beraten können.
Wichtig ist auch, zu verstehen, dass gewisse gerne verwendete Medien wie WhatsApp, E-Mail oder auch Fax sich nicht zur Kommunikation mit dem Patienten oder zum Austausch von Patientendaten eignen.

Welche Kommunikationsmöglichkeiten sind sicher?
Es geht nicht um das Programm, das verwendet wird, sondern um die dahinterstehende sichere Infrastruktur. Ich kann E-Mails verwenden, solange im Hintergrund die Daten verschlüsselt werden. Ich kann auch Befunde über ein Befundnetzwerk verschicken oder über ELGA. ELGA ist dann die Infrastruktur, die auch nahtlos in das Krankenhausinformationssystem (KIS) eingebettet sein sollte. Der Arzt arbeitet mit seiner vertrauten Software und kann die Befunde
über ELGA wie gewohnt einsehen. Dafür muss er nicht extra in ELGA wechseln – das wäre ja auch zu umständlich. Das eine ist die Infrastruktur und das andere die Benutzerschnittstelle. Im Hintergrund werden dann die ELGA-Prozesse abgewickelt und im Idealfall merke ich als Benutzer nichts davon. Das ist der Mehrwert. Deswegen ist es wichtig, dass die Infrastruktur österreichweit einheitlich und über standardisierte Schnittstellen verbunden ist.

Braucht es dazu mehr Kooperation zwischen den Anbietern von digitaler medizinischer Infrastruktur?
Nun, im Prinzip ist ELGA auch hier die Antwort, das ist genau die Kommunikationsschnittstelle. Das heißt: Jeder behält sein Softwareprodukt. Ein anderer Aspekt ist, dass wir in einer freien Marktwirtschaft leben. Natürlich kann sich jeder Krankenhausträger oder jeder Arzt in der Ordination überlegen, welche Software intern verwendet werden soll. Man muss allerdings sicherstellen, dass bestimmte Grundinformationen standardisiert abgelegt werden. Dafür braucht es entsprechende Verordnungen und eine Art sichere Datendrehscheibe wie ELGA.

Welchen Programmen kann man vertrauen, um heikle Daten auszutauschen?
Ich würde mich bei einer entsprechenden Anwendung versichern, dass sie nach dem Medizinproduktegesetz zertifiziert und somit vertrauenswürdig ist. Datenschutz ist einfach ein großes Thema. Ich würde mich nur auf anerkannte Infrastrukturen und zertifizierte Softwareprodukte verlassen, sobald patientenbezogene Daten übermittelt werden. Anbieter müssen nachweisen, dass sie technisch und rechtlich alle Regeln einhalten. Das ist natürlich eine große Hürde für kleine Anbieter, in einem Hochrisikobereich aber unumgänglich. Österreich ist da recht früh und gut einen Weg gegangen, wo festgelegt wurde, welche Standards bei Austauschdatenformaten einzuhalten sind. Und darauf basiert jetzt ELGA.

Wie wahrscheinlich ist es, dass das freiwillige Einbinden von gesundheitsrelevanten
Daten durch Patienten (z. B. in Fitness-Apps etc.) etabliert wird, um beispielsweise niedrigere Versicherungsprämien bzw. Selbstbehalte zu bezahlen?
Wenn ich als Patient Geld sparen kann, dann werde ich entsprechende Möglichkeiten nutzen. Viele gerade chronisch kranke Patienten machen das ja bereits. Die entscheidende Frage ist natürlich, wie der Arzt dann an die Daten gelangt, um sie auch als Entscheidungsgrundlage heranziehen zu können. Es gibt mittlerweile von einigen Anbietern Programme, bei denen Arzt und Patient die erhobenen Daten auf einer gemeinsamen Plattform möglichst sicher nutzen können. Das Problem ist, dass der Arzt dann eventuell verschiedene Produkte parallel betreuen muss. Daher wäre es schön, wenn man sich auch hier auf Standards einigen könnte, aber so etwas kann man wohl nicht zentral vorgeben – das muss der Markt zulassen.
Grundsätzlich bin ich sicher, dass die Patienten die Berücksichtigung ihrer erhobenen Daten im Sinne des „mündigen Patienten“ immer mehr einfordern werden. Sie nutzen entsprechende Apps und erwarten auch, dass der behandelnde Arzt sich diese Daten anschaut.

Kann man dafür dann auch die ELGA-Infrastruktur nutzen?
Es gibt bereits Forschungsprojekte, die sich damit beschäftigen, selbst gemessene Daten in ein ELGA-konformes Format zu bringen. Man könnte sich vorstellen, dass der Patient vier Wochen lang seine Werte misst und dann ein aggregierter Bericht für ELGA erstellt wird.

ELGA war und ist für viele Ärzte ein Reizwort. Wie schätzen Sie das Potenzial ein und worin liegt diese Ablehnung Ihrer Meinung nach begründet?
ELGA ist grundsätzlich eine Infrastruktur, die einen standardisierten und sicheren Austausch von Patientendaten ermöglicht. Beispielsweise ist die E-Medikation aktuell die einzige Möglichkeit, zu sehen, welche Medikamentenverordnungen ein Patient bekommen hat. Ich habe allerdings den Eindruck, dass in der Kommunikation bezüglich ELGA auch Fehler gemacht wurden. Dass der Nutzen – gerade im ärztlichen Bereich – zu wenig, aber die Gefahren oder Sorgen eventuell zu sehr betont wurden. Die Patienten wurden in den Prozess zu wenig einbezogen. Was sicher hilft, ist die Abbildung dieses Themenbereichs im Medizinstudium. In Tirol gibt es übrigens gerade eine Initiative der Med-Uni Innsbruck, in die wir als UMIT auch eingebunden sind, solche Inhalte in das Studium aufzunehmen.
Das ist der Weg, den wir hier gehen müssen, um den Sorgen zu begegnen und den Nutzen darzustellen.

Was werden wir in den nächsten zehn Jahren erleben?
Digitalisierung, Telemedizin und E-Health sind nicht aufzuhalten. Sie werden verstärkt kommen, mit möglichst früher Integration, auch als Teil ärztlichen Handelns und des Berufsbildes. Dieser Umstand eröffnet übrigens auch neue Berufsfelder. Der telemedizinisch tätige Arzt könnte ein eigenes Berufsbild werden. Corona hat diese Entwicklung auf jeden Fall gefördert und gezeigt, wie wichtig und praktisch auch einfache Anwendungen wie die Online-Terminvereinbarung sein können. Ärzte, die diese Infrastruktur bereits genutzt haben, waren im Vorteil. Alle anderen mussten und müssen jetzt schnell nachziehen.
Die Finanzierung telemedizinischer Leistungen muss klar über die Gebührenkataloge geregelt werden, denn es muss sich für die durchführenden Ärzte auch finanziell lohnen.
Der letzte Punkt, der mir natürlich besonders wichtig ist: Es gibt zunehmend Weiterbildungsangebote in diesem Bereich. Ein Weiterbildungsangebot bei uns an der UMIT, das sich speziell auch an Mediziner richtet, ist der Universitätslehrgang „Health Information Management“, der detailliert in das Themengebiet der Digitalisierung einführt und den Teilnehmern ermöglicht, an der Schnittstelle zwischen Medizin und Technik zu agieren. Der nächste Starttermin ist im Herbst, Anmeldungen sind noch möglich.
Mehrere Mediziner haben den Lehrgang bereits absolviert. Manche von ihnen sind weiterhin im ärztlichen Bereich tätig, andere haben auch Berufe im Bereich der Digitalisierung angenommen.
Das Wichtigste ist: Man sollte die Entwicklungen in der medizinischen Digitalisierung nicht den Informatikern alleine überlassen. Mediziner sollten in der Lage sein mitzuentscheiden und nicht von Entwicklungen überrollt werden, sondern mitgestalten, und zwar so, wie es aus medizinischer Sicht sinnvoll für den Patienten und sie selbst ist.