Die Ärzte-Kritik ist für ÖGK-Chef Wurzer ungerechtfertigt

ÖGK-Generaldirektor Berhard Wurzer (c) ÖGK

Die Österreichische Gesundheitskasse wurde zuletzt von der Ärztekammer für ihre Arbeit in der Corona-Krise kritisiert. Im RELATUS-MED-Interview bezieht der ÖGK-Generaldirektor erstmals dazu Stellung.

Die Ärztekammer hat zuletzt Kritik an den Leistungen der ÖGK in der Krise geübt. Was sagen Sie dazu? Ich bin überrascht und enttäuscht, die anderen Vertragspartner waren alle sehr zufrieden mit der Zusammenarbeit. Was wir auf allen Ebenen und an allen Ecken in der Krise gemeinsam mit den Ärzten umgesetzt haben, hat gut geklappt, wie etwa die Lösungen bei der Telemedizin oder die rasche Lösung mit dem E-Rezept. Es haben sich die Beschäftigten der ÖGK nicht verdient, dass man sagt, sie hätten versagt. Man soll hier keine Schuldzuweisungen machen. Es hat alle getroffen, und man hat rasche Lösungen gefunden. Wir haben primär aber natürlich Produkte für unsere Vertragsärzte organisiert. Dass die ärztliche Interessenvertretung 100 % Ausgleich haben will, ist aus Sicht einer Standesvertretung nachzuvollziehen, aber schwer mit dem gesetzlichen Auftrag der ÖGK zu vereinbaren. Da stellt sich die Frage, ob der Bund etwas aus dem Krisenfonds finanziert. Das Angebot vorläufig, 80 Prozent des Vorjahres als Sofortmaßnahme akontiert zu bekommen, ist gut. Es wird ja vielleicht auch zu Nachholeffekten kommen.

Wo hat Corona Stärken und Schwächen in der Versorgung gezeigt und wie kann man sie stärken beziehungsweise beheben? Es zeigte sich, dass die Fusion der Gebietskrankenkassen sinnvoll gewesen ist. Das hat Koordination und Entscheidungen erleichtert und beschleunigt. Die Abstimmung zwischen Vertragspartnern und der ÖGK hat gut funktioniert. Natürlich gibt es unterschiedliche Interessen und Forderungen – vieles hat aber gut geklappt. Die Probleme mit fehlender Schutzausrüstung sind systemimmanent – niemand hat sich darauf vorbereiten können, und die Krise hat weltweit zu Engpässen und Lieferproblemen geführt.

Wie wirkt sich die Corona-Krise auf die wirtschaftliche Situation der ÖGK aus? Die wirtschaftliche Situation schlägt eins zu eins durch. Die tatsächlichen Folgen sind aber erst sichtbar, wenn klar ist, wie viele von den jetzt gestundeten Beiträgen später reinkommen oder ob Forderungen offenbleiben. Die massiv gestiegene Arbeitslosigkeit sowie die zinsfreien Stundungen von Beitragszahlungen für Betriebe haben den Sozialversicherungsträgern insgesamt im März ein Minus beschert. Von einem Einnahmenminus in Höhe von 887 Millionen Euro entfallen 168,61 Millionen auf die ÖGK, der Rest auf alle anderen Träger. Die ÖGK verbuchte in der zweiten Märzhälfte um 5,69 % weniger versicherte Erwerbstätige als im März 2019. Im selben Zeitraum stieg die Zahl der Arbeitslosen in entsprechendem Ausmaß. Welche Auswirkungen die Krise auf das zu erwartende Jahresergebnis der ÖGK haben wird, lässt sich noch nicht abschätzen. Die für 15. Mai vorgesehene nächste Gebarungsvorschau wurde deshalb ausgesetzt – obwohl diese vierteljährlich gesetzlich vorgeschrieben ist. Wir haben dem Ministerium mitgeteilt, dass der Versuch einer seriösen Vorschau dem Blick in eine Kristallkugel gleichkommt.

Braucht die ÖGK staatliche Hilfen? Wir können die Dynamik einfach nicht vorhersagen, jede jetzt genannte Zahl würde nur zur Verwirrung beitragen. Die Zahlen sind sehr volatil. Die Frage wird aber davon abhängen, ob die gestundeten Beiträge wieder herein kommen. Die Versorgung der Versicherten ist in jedem Fall gewährleistet. Trotz Einbruchs der Beitragseinnahmen ist die ÖGK mit ausreichender Liquidität ausgestattet, um zugesagte Akontozahlungen an die Vertragspartner rasch zu überweisen und alle Zahlungsverpflichtungen termingerecht zu erfüllen. Es gibt auch erste positive Signale, weil seit der Ankündigung der Maßnahmenlockerungen ein Zuwachs an pflichtversicherten Erwerbstätigen registriert worden ist.

Braucht es eine Neugestaltung des Gesundheitswesens und wie? Das Gesundheitswesen ist ein sich ständig entwickelndes System. Weitermachen wie bisher darf man grundsätzlich nicht. Es ist noch zu früh, Lehren aus der Krise zu ziehen. Wir werden aber in jedem Fall eine Analyse machen. Es werden viele Dinge, die man jetzt gesehen hat, ins System einfließen und es somit verändern. Das Thema Telemedizin hat einen neuen Zugang gebracht und eine neue Dimension bekommen. Wir erhalten von vielen Vertragspartnern gerade Standing Ovations zu dem Thema und den Lösungen, die wir gemeinsam gefunden haben. Das hat auch bestehende Berührungsängste reduziert und wird sicher eine andere Dynamik bekommen sowie Entwicklungen im Gesundheitswesen beschleunigen.

Wird der Spardruck nach Corona im System zunehmen? Wir haben jetzt ein Minuswachstum – das gab es noch nie. Die Republik wird sich generell fragen müssen, wie man das in den nächsten Jahren finanziert. Dadurch werden Steuermittel weniger, Beitragseinnahmen weniger – alles wird weniger, bei steigenden Kosten. Das betrifft nicht nur das Gesundheitswesen, sondern den gesamten Staatshaushalt. Wir stehen sicher vor einer Zäsur mit der Frage, wie das grundsätzlich weiter gehen soll. Der Wandel wird vermutlich sehr tief gehen. Jetzt müssen wir auf allen Ebenen daran arbeiten, dass keine negative Stimmung entsteht.

Das Interview führte Martin Rümmele