Kommentar: Die Auswege aus der angespannten Situation

Martin Rümmele ist Chefredakteur von Relatus.

Sollen die Corona-Maßnahmen angesichts enger Kapazitäten auf Intensivstationen verschärft werden? Sollen Schulen schließen? Experten sind sich uneinig. Und genau das ist das größte Problem der Krise.

91 % – so viele der für COVID-19-Patienten reservierten Intensivkapazitäten waren am Dienstagfrüh in Oberösterreich belegt. In Tirol waren es 82,8 %. Eine der Folgen: im Krankenhaus Hall in Tirol wurden Patienten der Psychiatriestation nach Haus geschickt. Das Land Tirol versicherte, dass Patienten, die stationäre Betreuung bräuchten, diese auch weiterhin bekommen würden. Klar ist aber, dass bereits bundesweit nicht dringende Operationen verschoben werden. Das könnte massive Nebenwirkungen haben, warnen Experten.

Man kann nun lange diskutieren, wer schuld daran ist, dass sich die Situation im Herbst so verschärft hat – fehlende Planungen der Behörden auf Bundes-, Landes-, oder Gemeindeebene; die Nichteinhaltung von Corona-Maßnahmen durch Partywütige; nicht ausreichende Test-Konzepte – Fakt ist, dass sich die Intensivstationen füllen. Auswege werden derzeit viele vorgeschlagen – von den unterschiedlichen Experten. Da fordern etwa Mathematiker und Statistiker mit Blick auf seit Schulbeginn steigende Infektionszahlen in Schulen die Schließung von Bildungseinrichtungen. Kinder- und Jugendärzte und Bildungsexperten wiederum warnen genau davor, weil das andere Schäden nach sich ziehen würde. Studien, die Aussagen wie „Die Schulen sind besonders sichere Orte“ beweisen wollen, seien methodisch falsch beziehungsweise überholt und nicht aufrecht zu erhalten, sagen der Mathematiker Peter Markowich, der Informatiker Georg Gottlob und die beiden Physiker Christoph Nägerl und Erich Gornik, allesamt Träger des Wittgenstein-Preises – dem höchsten Wissenschaftsförderpreis Österreichs.

Die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ) spricht sich wiederum für bessere Präventionsmaßnahmen innerhalb der Bildungseinrichtungen statt Schulschließungen und Distance Learning aus. In einer Stellungnahme wurden etwa eine Erhöhung der Mindestabstände, Plexiglaswände, konsequentes Maskentragen der Lehrer außerhalb der Klassen sowie flexiblere Schulstart- und -endzeiten angeregt. Die Schließung von Bildungseinrichtungen hätte nicht nur gravierende Folgen für die Ausbildung, sondern auch „weitreichende Auswirkungen auf das soziale, psychische und geistige Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen“, so die ÖGKJ. Dazu stellten sie auch die meist berufstätigen familiären Betreuungspersonen vor große Herausforderungen und führten durch deren Ausfall zu Problemen in der Arbeitswelt.

Das Beispiel zeigt ein Grundproblem der Corona-Pandemie: Wissenschafter sind sich nicht einig. Je nach eigener persönlicher Einstellung finden wir folglich immer einen Experten, der diese mit einer Studie bestätigt. Die Wissenschaftsgeschichte ist voll mit Beispielen über durchaus emotional und unsachlich geführte Konflikte zwischen Experten. Deshalb wurde auch klargelegt, wie Wissenschaft funktioniert damit sie möglichst sachliche Ergebnisse liefert: Die Basis dafür sind wissenschaftliche Methoden, wie das Erheben von Daten, Kontrollprozesse, wissenschaftlicher Diskurs und Peer Reviews. Das dauert seine Zeit. Das Problem dabei ist, dass die Fallzahlen auf den Intensivstationen darauf derzeit keine Rücksicht nehmen und rasch steigen. Es müssen also Entscheidungen getroffen werden, obwohl sich die Experten uneinig sind. Oder man wartet ab und schaut, was passiert. Das Risiko, dass sich getroffene Entscheidungen am Ende als falsch herausstellen, ist also hoch. Wir werden deshalb wohl oder übel nicht anders aus der Krise herauskommen, als dass wir alle aufeinander Rücksicht nehmen. Die eigene Gesundheit aber auch das Wirtschafts- und Sozialsystem lassen sich nicht schützen, wenn jeder nur auf sich und alleine auf seine Bedürfnisse achtet. Es wird also ohne ein Miteinander nicht gehen. (rüm)