Kommentar: Kurz könnte Landesfürsten und die Bevölkerung verlieren

Martin Rümmele ist Chefredakteur von Relatus.

Selbst ÖVP-nahe Experten kritisieren zunehmend, dass sich die Bevölkerung ob der Corona-Maßnahmen nicht mehr auskennt. Die Bundesländer wiederum gehen eigene Wege – wie der Alleingang des steirischen Landeshauptmannes in Sachen Impfpflicht zeigt. Und das dürfte nun auch für eine hohe Corona-Impfquote nicht hilfreich sein.

Eines kann man Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) nicht vorwerfen – dass er um eine Entscheidung verlegen ist. Man hat durchaus den Eindruck, dass rasch und klar entschieden wird. In Sachen Gesundheit und Corona scheint es aber, dass man in der ÖVP den Überblick verliert und das führt dazu, dass sich auch die Bevölkerung zunehmend nicht mehr auskennt. Am Montagabend kritisierte etwa der Chef des Instituts für Höhere Studien, Verhaltensökonom Martin Kocher, im ORF-Interview in der ZIB2 die jüngsten Entscheidungen. Nach der überraschenden und kurzfristigen Ankündigung der Testungen durch Kurz drei Tage nachdem Experten davon abgeraten hatten, habe es tagelang widersprüchliche Aussagen der Politik vom Bund bis zu den Bürgermeistern –  über die Sinnhaftigkeit, aber auch über die praktische Durchführung – gegeben. Kochers Fazit: Die Massentests waren öffentlich angekündigt worden, ohne dass sie politisch mit den Ländern akkordiert, geschweige denn organisiert waren. Die Folge nur 22,9 % Teilnahme beim Massentest, der nun vor allem deshalb wiederholt werden wird, weil der Bund noch auf Millionen an übriggebliebenen Tests sitzt.

Es war nicht der erste Patzer. Im Frühjahr kam der Todesstoß für die eigentlich sinnvolle Corona-App durch den Nationalratspräsidenten und Kurz-Vertrauten Wolfgang Sobotka (ÖVP), als dieser in den Raum stellte die App für alle verpflichtend zu machen. Von der folgenden Datenschutzdebatte hat sich das Instrument nicht mehr erholt. Jetzt leistet sich der steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer (ÖVP) den nächsten Fehltritt, indem er öffentlich über eine Impfpflicht nachdenkt. Dass er das mit Kalendersprüchen wie „die Gesundheit ist nicht alles. Aber ohne Gesundheit ist alles nichts“ tut zeigt, dass er wenig Ahnung hat von Gesundheit, Health Literacy und der seit Jahren diskutierten Frage, wie man Impfquoten erhöhen kann. „Man erreicht Impfgegner mit einer Impfpflicht nicht, weil sie Mittel finden, diese zu umgehen, und ermöglicht ihnen nur die Argumentation, dass man mit dem ‚Obrigkeitshammer‘ agieren muss, weil man sie nicht mit rationalen Mitteln überzeugen konnte“, sagte am Dienstag der Wiener Infektiologe Herwig Kollaritsch, das was wohl jeder Impfexperte Schützenhöfer erklärt hätte, wenn er danach gefragt hätte. Experten schätzen die Impfbereitschaft in der Bevölkerung derzeit auf rund 30 %. Die Diskussion, die Schützenhöfer befeuert, wird sie wohl weiter nach unten drücken.

Das Beispiel zeigt ebenso wie die Massentests aber noch etwas: die Länder und Gemeinden gehen zunehmend auf Distanz zum Bund und machen ihr eigenes Ding. Das schadet nicht nur der Pandemiebekämpfung, sondern auch dem Rückhalt des Kanzlers in der ÖVP. Vielleicht kann man in diesem Licht auch sehen, dass Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) am Dienstag bekannt gab, dass der Bund den Ländern zusätzliche Mittel zur Bekämpfung der Coronakrise überweisen wird. Außerdem spricht das Finanzministerium auch mit den Gemeinden über zusätzliche Hilfen. Der noch bis Ende 2021 laufende Finanzausgleich soll verlängert werden. Verkündet wurde das bei einer außerordentlichen Sitzung der Landesfinanzreferenten. Konkret will der Bund den Pflegefonds auf den stationären Bereich ausweiten und Kosten für Schutzausrüstungen und „Barackenspitäler“ bis März 2021 übernehmen. Außerdem erhalten Länder und Gemeinden Kostenersatz für das Personal bei den Massentestungen.

Ins Bild passt zudem ein parteipolitischer Schlagabtausch zwischen Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil (SPÖ) und der Bundes-ÖVP am Dienstag. „Ohne die Versäumnisse des Bundes wäre die Beteiligung im Burgenland und auch in ganz Österreich bestimmt höher gewesen“, stellte der Landeshauptmann in einer Aussendung fest. Doskozil kritisierte erneut die „mangelnde Kommunikation des Bundes mit den Ländern“ im Vorfeld der Testungen. Die Bundes-ÖVP reagierte heftig und bezeichnete Doskozil als „bekanntesten Querulanten im gesamten Land“. Womit sie zwar nicht ganz unrecht hat, sie zeigt damit aber auch, dass die eigenen Nerven blank liegen. Nicht zuletzt deshalb, weil Experten bereits vor einer dritten Welle warnen. (rüm)

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