„Medizinskandal“: Umgang mit ME/CFS-Patient:innen

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Ein Long Covid-Experte findet harte Worte für die aktuelle Versorgungssituation von ME/CFS-Patient:innen und kritisiert dabei auch Ärzt:innen.

Einer der „größten Skandale des vergangenen Jahrhunderts in der Medizin“ – so beschreibt Long Covid-Spezialist und Neurowissenschaftler David Putrino den Umgang mit ME/CFS-Betroffenen in einem Interview mit der APA. Der Experte und Professor für Rehabilitation an der Icahn School of Medicine (Mount Sinai/New York) kritisiert vor allem die Einstellung von manchen Wissenschaftler:innen und Ärzt:innen scharf, die nach wie vor behaupten würden, ME/CFS sei eine psychische oder psychosomatische Erkrankung. Auch Kathryn Hoffman, Leiterin der Abteilung für Primary Care Medicine an der MedUni Wien, fand dazu zuletzt in einem RELATUS-Interview klare Worte.

Laut Putrino müssten Forschende und Ärzt:innen, die post-akute Infektionssyndrome wie Long Covid/Post Covid oder die Multisystemerkrankung ME/CFS untersuchen und behandeln, „ständig für die Tatsache eintreten, dass das, womit wir es zu tun haben, eine organische Krankheit ist“. „Viele Leute haben das gesagt – und ich stimme voll und ganz zu, dass dies einer der größten Skandale des vergangenen Jahrhunderts in der Medizin ist: Die Art und Weise, wie Menschen mit ME/CFS, Long-Covid, chronischer Lyme-Borreliose und anderen post-akuten Infektionssyndromen behandelt wurden“, sagte der Professor für Neurowissenschaft.

ME/CFS ist seit 1969 seitens der Weltgesundheitsorganisation WHO beschrieben und auch anerkannt, wird laut Putrino aber bis heute nicht ausreichend verstanden und erforscht. Es gebe „keine einzige“ peer-reviewte Studie, die zeigt, dass kognitive Verhaltenstherapie oder sogenannte abgestufte Bewegungstherapie (Graded exercise therapy/GET) „irgendeine Rolle“ bei der Heilung von Menschen mit ME/CFS oder Long-Covid spielen, „die nicht von seriösen Wissenschaftler:innen völlig diskreditiert wurde“. Verhaltenstherapie und Bewegungstherapie seien nichtsdestotrotz Werkzeuge, nach denen gegriffen wird, „weil sie billig sind“ und somit „attraktiv für Regierungen“.

Als Auslöser für ME/CFS gelten in erster Linie bakterielle oder virale Infektionen. Auch Operationen oder unter anderem Traumata werden von Patient:innen als mögliche Trigger genannt. Eindeutig klar sei die Ursache für Long beziehungsweise Post Covid, betonte Putrino, „nämlich eine SARS-COV-2-Infektion“. Der Spezialist plädiert einerseits für Prävention durch die Installation von HEPA-Filtern, die Anwendung von Masken und Aufklärungskampagnen. Andererseits fordert Putrino von Entscheidungsträger:innen weltweit, Forschung zu fördern und die Erkrankung ernst zu nehmen. Putrino ist auch im wissenschaftlichen Beirat der von der Wiener Bäckerei-Familie Ströck gegründeten WE&ME-Stiftung vertreten, die sich der Erforschung von ME/CFS verschrieben hat. (kagr/APA)