Wiener Forscher suchen Erklärung für seltsamen Pandemieverlauf

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Historische Pandemien verliefen in der Regel anders als der aktuelle Corona-Ausbruch. Warum das so ist, analysierten Wiener Komplexitätsforscher jetzt im Fachblatt „Pnas“.

Bisher verliefen Pandemien so, dass nach einer ersten Hochphase die Fallkurve nach unten ging, um sich dann oftmals wieder schnell wachsend nach oben zu bewegen. Diese charakteristische S-Kurve findet sich nun aber in vielen Ländern nicht. So stellte sich in erstaunlich vielen Ländern nach dem Lockdown ein lineares Wachstum der Fallzahlen ein – und dies relativ unabhängig von den dort gerade bestehenden Maßnahmen zur Eindämmung. Die Infektionszahlen nahmen also über einen längeren Zeitraum in etwa so stark zu, wie es bei einer effektiven Reproduktionszahl (R-Zahl) von eins zu erwarten ist. Bei der R-Zahl handelt es sich um eine Schätzung der durchschnittlichen Zahl der Fälle, die von einer infizierten Person ausgehen. Liegt die Zahl über 1,0, nimmt die Zahl der Infektionen kontinuierlich zu, liegt sie darunter, geht die Zahl der Infektionen zurück.

Um mit bisherigen epidemiologischen Standardmodellen exakt einen solchen Verlauf abzubilden, müsste man Annahmen treffen, die in der Realität über derart lange Zeit äußerst unwahrscheinlich beziehungsweise „eigentlich unmöglich“ sind, sagt Peter Klimek vom Complexity Science Hub Vienna (CSH) und der Medizinischen Universität Wien, und Ko-Autor der Studie. Um den unerwarteten Verlauf trotzdem aufzuklären, sahen sich KIimek und Kollegen das Verhalten der Menschen in ihren Kontaktnetzwerken genauer an. Dabei nahmen sie an, dass die Verbreitung in kleineren und in ihrer Zahl einigermaßen überschaubaren Menge an Clustern stattfindet – also eine Entwicklung, wie sie etwa in Österreich über die vergangenen Monate zu beobachten war. So nimmt ein „Spreader“ eine Corona-Infektion aus einem bestehenden kleinen Cluster heraus, etwa aus der Arbeitsstelle mit nach Hause, wo er zwei bis drei Menschen ansteckt, die dann einige weitere Menschen anstecken, bis die Kette unterbrochen wird.

Der Schlüssel dazu, dass es so lange bei dieser Entwicklung von Kleincluster zu Kleincluster bleibt, liegt den Forschern zufolge im durchschnittlichen Verhalten der Menschen in unserer Gesellschaft: Meist sind die physischen Kontaktnetzwerke mit regelmäßigen Treffen über längere Zeiträume hinweg nämlich relativ klein, erklärte CSH-Chef Stefan Thurner im Gespräch mit der APA. So seien etwa Büro-Netzwerke um die fünf Personen groß. Die durchschnittliche Haushaltsgröße liegt in den in der Arbeit untersuchten Länder USA und Österreich zwischen 2,5 bis unter drei Personen. Im Lockdown-Szenario bleiben dann nur letztere, also sehr wenige Verbindungen. Unter diesen Annahmen kam es in den Berechnungen für die Zeit nach einem Lockdown genau zu dem oft beobachteten linearen Anstieg. „Dieses Modell funktioniert für verschiedene Länder sehr gut“, sagte Thurner, der mit seinem Team mit dem neuen Modell auch für andere Staaten „ungefähr auf die tatsächlichen Zahlenverläufe“ kam. So könne man auch ein Stück weit verstehen, „warum das Virus nicht wirklich ausstirbt“, sondern zuletzt über viele Wochen hinweg „so dahinplätschert“, so der Komplexitätsforscher.

Die Wissenschafter sind dann auch der Frage nachgegangen, wie sich die Infiziertenzahlen unter anderen Voraussetzungen in etwa dargestellt hätten. Und das Ergebnis überrascht: In Österreich hätte es demzufolge bis zu 30 Prozent mehr Fälle gegeben, wenn der Lockdown zehn Tage später gekommen wäre. Dieser Befund steht im Kontrast zu Ende Mai präsentierten Analysen des Teams des Simulationsexperten Niki Popper von der Technischen Universität (TU) Wien. Dabei kam heraus, dass es in etwa zu einer Vervierfachung der positiv getesteten Fälle gekommen wäre, wenn die Maßnahmen sieben Tage später gesetzt worden wären. Im Austausch mit dem Team um Popper habe man nach Ursachen gesucht, die unter anderem im völlig anderen methodischen Ansatz und in etwas anderen Anfangsbedingungen mit jedoch großen Auswirkungen zu liegen scheinen, sagte Thurner, der dafür plädierte, bei Prognosen immer auch die mögliche Bandbreite der Ergebnisse als Fehlerbalken anzugeben. Schlussendlich zeigen aber auch die neuen Berechnungen, dass das exponentielle Wachstum schnell wieder los ginge, wenn die Kontaktnetzwerke wieder dichter werden.

Zur Studie: https://dx.doi.org/10.1073/pnas.2010398117

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