Kommentar: Warum der „Grüne Pass“ eine Falle sein kann

Martin Rümmele ist Chefredakteur von Relatus.

Jetzt ist also ein Öffnungstermin da. Und alle hoffen dank „Grünem Pass“ und Impfungen auf eine rasche Normalisierung des Lebens. Doch diese Hoffnung könnte trügerisch sein. Das Konzept ist noch zu wenig ausgereift.

Ankündigungen allein bringen noch keine Lösung. Dieses Fazit kann man wohl nach mehr als einem Jahr Corona-Pandemie vor allem in Österreich ziehen. Dennoch setzt die Regierung weiter auf Ankündigungen. Diesmal geht es um die lang ersehnten Öffnungen. Doch auch diesmal kann noch viel daneben gehen, warnen Epidemiologen. Vor allem die ÖVP will Ende Mai einen „Grünen Pass“ für Geimpfte, Getestete und Genesene. Das Problem dabei: genesen, getestet und geimpft ist nicht gleichwertig. Es könnte durchaus passieren, dass viele Menschen angesichts der hohen Verunsicherung über Impfstoffe lieber auf Tests als auf Impfungen setzen. Immerhin ermöglichen Tests ja auch eine Teilnahme an allen öffentlichen Angeboten. Die Folge wäre dann ein schwereres Erreichen einer Herdenimmunität. Das könnte sich im Herbst und womöglich schon im Sommer rächen. Denkbar wäre als Ausweg, die Antigentests nicht mehr kostenlos anzubieten. Doch dann könnten auch diese zurückgehen. Offen sind auch die EU-Vorgaben. „Der Grüne Pass ist nur dann sinnvoll, wenn das gesamteuropäisch gelöst wird“, sagt Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne): Was mache man mit Menschen, die eine Impfung haben, die in der EU nicht zugelassen ist?

Die geplanten weitreichenden Öffnungsschritte ab 19. Mai werden auch in Expertenkreisen unterdessen kritisch gesehen. Laut dem internen Protokoll der Ampel-Kommission aus der Sitzung der Vorwoche wurde angeblich diskutiert, dass die aktuelle Situation durchaus Parallelen zu jener im Herbst aufweise. Vor einer „hoch angesetzte Wette gegen den Impffortschritt“ war die Rede. In der Zeit bis zu den angestrebten Öffnungen „kann epidemiologisch noch sehr viel passieren“, sagte auch der Experte für Evidenzbasierte Medizin von der Donau-Universität Krems, Gerald Gartlehner, in Interviews. Die gute Ausgangslage, von der der Kanzler gesprochen hat, und die wir nicht verspielen dürfen, sehe er jetzt eigentlich nicht. „Die müssen wir uns noch schaffen“, sagte der Epidemiologe, der trotzdem „grundsätzlich optimistisch“ in Richtung Sommer blickt.

In der Öffnungsmodellregion Vorarlberg haben sich die Zahlen trotz einer guten Ausgangslage und eines guten Gesamtkonzepts in wenigen Wochen vervierfacht. Noch spiegelt sich das allerdings nicht in der Belegung der Intensivbetten wider. Die Frage wird aber sein, wie das in zwei Wochen aussieht. Geht man mit Inzidenzen von 150 oder 200 in den Öffnungsmodus, kann das auch schief gehen. Denn was derzeit in Vorarlberg passiert, kann sich bei Öffnungen ab dem 19. Mai auch bundesweit wiederholen. Das wäre letztlich auch für den Sommertourismus eine Belastung. Hilfreich ist hingegen, dass wohl bis Ende Juni schon ein großer Teil der Bevölkerung zumindest ein Mal geimpft sein wird. Ungewiss wiederum sind mögliche Mutationen, die gerade auch bei einer verstärkten Reisetätigkeit wieder nach Österreich kommen könnten.

Laut Weltgesundheitsorganisation WHO intensiviert sich die Corona-Pandemie auf globalem Niveau nämlich weiter. Die Zahl der gemeldeten Infektionen pro Woche steigt seit neun Wochen, die der gemeldeten Todesfälle seit sechs Wochen, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus am Montag: „Um die Dimension aufzuzeigen: Es gab vergangene Woche fast genauso viele Fälle wie in den ersten fünf Monaten der Pandemie zusammen“, sagte er. Noch ist die Sache also nicht ausgestanden – auch wenn wir uns das alle wünschen. (rüm)

Kurzumfrage: Was denken Sie: Kommt die Öffnung zu früh?