Rezension: Brandaktuelle Perspektiven auf das Burn-out

Das Phänomen „Burn-out“ ist heute omnipräsent: Zahlreiche Medienberichte einschließlich Radio- und TV-Sendungen widmen sich den Symptomen einer allgemeinen Erschöpfung, die in der schnelllebigen (post-)modernen Gesellschaft offensichtlich immer weiter um sich greift. Prominente Künstler, Sportler und Manager, die sich über die Medien als Burn-out-Betroffene geoutet haben, erzählen über ihre persönlichen Erschöpfungskrisen und verkörpern dabei exemplarisch die Assoziation von Leistung, Erfolg und Burn-out. Angesichts der massiven Berichterstattung über Burn-out mag es nicht übertrieben sein, von einer „Modediagnose“ und einem „Medienhype“ zu sprechen, dessen Höhepunkt wahrscheinlich noch nicht überschritten ist. Vor diesem Hintergrund gilt es jedoch umso mehr, den Leidensdruck der Betroffenen ernst zu nehmen, den Begriff des „Burn-out“ auf wissenschaftlicher Grundlage zu präzisieren sowie Diagnostik und Therapiemöglichkeiten weiterzuentwickeln.
Dieses Anliegen ist der Ausgangspunkt einer neuen Buchpublikation1 des Wiener Anton-Proksch-Instituts (API), die sich von anderen Fachbüchern zum Thema Burn-out wesentlich unterscheidet. Denn einerseits bemühen sich die Herausgeber, das Burn-out-Phänomen „umfassend und polyperspektivisch“ auf interdisziplinärer Grundlage zu erfassen, und andererseits wird hier ein philosophisch fundierter Ansatz vorgestellt, der nicht nur die Theorie des Burn-out-Phänomens, sondern auch die Praxis der Burn-out-Behandlung zu erweitern verspricht. Im aktuellen klinischen Umgang mit Burn-out-Patienten ist die Gefahr groß, Heilung nur als Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit zu begreifen und dabei die tiefer liegenden existenziellen Bedingungen des Burn-out-Prozesses außer Acht zu lassen. Demgegenüber werden von den Herausgebern unter Bezugnahme auf Ästhetik und Lebenskunst neuartige Ressourcen namhaft gemacht, die hier erstmals für eine nachhaltige Burn-out-Prävention und Therapie erschlossen werden sollen.

Burn-out und Sucht

Dieses Unterfangen gründet in einem größer angelegten Projekt, das von Michael Musalek und Martin Poltrum am API, der größten Suchtklinik Europas, seit Längerem sehr ambitioniert betrieben wird: Es handelt sich um die Wende von einer defizienz- zu einer ressourcenorientierten Diagnostik und Therapie, bei der die Ergänzung der „Evidence-based medicine“ durch eine humanistisch geleitete „Aesthetic-based medicine“, die vielfältige Integration der Ästhetik im therapeutischen Feld, vor allem die Begründung einer Sozialästhetik für den medizinischen Alltag, einen zentralen Stellenwert hat2–5. Mit der vorliegenden Publikation findet dieses Projekt seine konsequente Fortsetzung, indem es an der derzeit meist diskutierten psychischen Störung, dem Burn-out, erprobt wird.
Das inhaltliche Spektrum des Sammelbands reicht von der klinischen Phänomenologie, Diagnostik und Therapie des Burn-out über Epidemiologie, klinische Psychologie, Aspekte der Medizin- und Psychotherapiegeschichte bis hin zu philosophisch und literaturwissenschaft­lich orientierten Beiträgen. Es findet sich keine erschöpfende, strukturierte Darstellung zum Burn-out-Phänomen, viel eher ein buntes Sammelsurium geistiger Blitzlichter, das allerdings durch die beiden Beiträge von Michael Musalek zum Auftakt und Abschluss des Buches thematisch zusammengehalten wird.
So erfolgt zunächst eine ideengeschichtliche Betrachtung, die darauf hinausläuft, die Burn-out-Störung vorrangig im Kontext von Suchterkrankungen, insbesondere in engster Nähe zur Arbeitssucht zu beleuchten (wiewohl z. B. auch Depressionen, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen oder somatische Erkrankungen häufig mit Burn-out assoziiert sind, so dass stets eine umfassende Differenzialdiagnostik erforderlich ist). Im abschließenden Beitrag liefert Musalek eine theoretische Grundlegung, dass Therapiekonzepte, die ursprünglich für die Rehabilitation von Patienten mit Suchterkrankungen entwickelt wurden, folgerichtig auch für die Behandlung von Burn-out geeignet sein können. Dementsprechend wurde das so genannte Orpheusprogramm, ein multimodales Behandlungsprogramm am Anton-Proksch-Institut, vor Kurzem für die Therapie von Burn-out-Patienten adaptiert. Denn auf einer existenziellen Ebene erscheint die im Rahmen des Orpheusprogramms anzustrebende „Lebensneugestaltung“ der Patienten im Sinne einer „tiefenästhetischen Umformung des Lebens“ bei Sucht ebenso wie bei Burn-out viel versprechend4.
Dieser Ansatz wird hier von der etablierten Psychoedukation abgegrenzt, die als Bündel von „hierarchisch“ bzw. „paternalistisch“ verordneten Erziehungsmaßnahmen gekennzeichnet wird. Das Orpheusprogramm hingegen soll ein ideales Setting mit „Schutzzonen, Spiel­räumen und Atmosphären“ für eine intrinsische und somit tief verankerte Neuorientierung der Patienten hin zu weitgehender Autonomie, Selbstbestimmung und einem prinzipiell freudvollen Leben vermitteln. Gerade dieses „freudvolle In-der-Welt-Sein“, eine im traditionellen Medizinsystem bislang unbekannte Richtgröße, ist in diesem Programm der zentrale Angelpunkt für Prävention und Therapie.

Burn-out und soziale Beschleunigung

Ausgehend von diesen Erörterungen eröffnen auch die anderen Beiträge, die durchwegs als spannend zu bezeichnen sind, neue Perspektiven auf das Burn-out-Phänomen: Martin Poltrum beispielsweise analysiert dessen kulturelle Dimension und argumentiert, dass Burn-out nicht zufällig als historisch signifikante Epidemie am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert in Erscheinung getreten ist; liegt es doch nahe, diese Störung mit der gesamtgesellschaftlichen Beschleunigung, dem Strukturwandel der Subjektivität, den veränderten Arbeitsverhältnissen, der Reizüberflutung und der „Aufmerksamkeitsökonomie“ am Ende der Moderne zusammenzudenken und im Burn-out die symptomatische Manifestation einer „Pathologie des gegenwärtigen Zeitgeistes“ zu erkennen. Heilsame Wirkungen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene könnten insofern von einer bewussten Entschleunigung, Verlangsamung und einem achtsamen Innehalten erwartet werden.
Hier setzt der Beitrag von Ursula Baatz an, in dem die ursprünglich aus dem buddhistischen Kontext entlehnte Achtsamkeitspraxis als Weg zur Burn-out-Prophylaxe beschrieben wird. Burn-out wird dabei als Folge und extreme Ausprägung chronischer Stressbelastungen gekennzeichnet, die durch das klinisch evaluierte Verfahren der „Mindfulness-based stress reduction“ (MBSR) effektiv reduziert bzw. vermieden werden können. Der hochaktuelle Hintergrund für diese Überlegungen, der im Beitrag nur angedeutet werden kann, ist ein moderner ost-westlicher Dialog, der etwa in der Entdeckung der gesundheitsfördernden Wirkungen von Yoga und Meditation, der neurobiologischen Erforschung kontemplativer Praktiken oder der Entwicklung achtsamkeitsbasierter Interventionen in Medizin und Psychotherapie zum Ausdruck kommt und auch in gegenwärtigen Diskursen zur Glücksforschung und Lebenskunst eine Rolle spielt6.
Dass Burn-out-Patienten bereits frühzeitig in der belletristischen Literatur auftauchen, noch bevor überhaupt der klinische Begriff des Burn-out geprägt wurde, zeigt Nicolai Gruninger anhand des weltberühmten Romans „Die Buddenbrooks“ (1901) von Thomas Mann. Zudem findet sich die früheste Verwendung des Terminus in seinem heutigen Sinn in Graham Greens Roman „A Burnt-Out Case“ (1960). Dies markiert ein Forschungsfeld der „Medical humanities“ und verdeutlicht, dass literarische Texte höchst aufschlussreich für Entwicklungen sein können, die kulturell, wissenschaftlich und epidemiologisch erst wesentlich später relevant werden7.

Philosophie und Therapie

In der vorliegenden Buchpublikation wird bewusst und geradezu sprichwörtlich das Terrain der „Schöngeistigkeit“ aufgesucht und im Hinblick auf seinen lebenspraktischen Nutzen ausgelotet. Im ureigenen Terrain des Buches liegt zugleich der kritische Punkt, denn das Philosophieren über das Schöne und Freudvolle muss in diesem Fall in die konkrete Lebenssituation psychisch kranker Menschen übersetzt werden. Die programmatischen Beiträge liefern zwar eine konsequente theoretische Argumentation, aber keine empirischen Daten aus dem spezifischen klinischen Umfeld. Es bleibt letztlich offen, inwiefern dieser Ansatz überhaupt auf die verhandelbare Ebene der „Hard facts“ wie Wirksamkeit, Lebensqualität, Kosten etc. heruntergebrochen werden soll.
Insgesamt bietet der Sammelband einen maßgeblichen Beitrag zur Theorie des Burn-out-Phänomens und seiner Behandlung. Einer kulturell und klinisch relevanten Problematik wie dem Burn-out mit der Verlebendigung von Philosophie, der Rückbesinnung auf die Tradition der Lebenskunst und auf versunkene Schatzkisten der Geistesgeschichte zu begegnen, ist ein Ansatz, der über bisherige Befunde und Behandlungsweisen hinausreicht. Zu wünschen ist, dass dieser Ansatz möglichst vielen Betroffenen zugute kommen kann.

1 Musalek M, Poltrum M (Hg.), Glut und Asche – Burnout. Neue Aspekte der Diagnostik und Behandlung. Parodos Verlag, Berlin 2012.
2 Musalek M, Poltrum M. (Hrsg.), Ars Medica. Zu einer neuen Ästhetik in der Medizin. Parodos Verlag, Berlin 2011.
3 Musalek M, Social aesthetics and the management of addiction. Current Opinion in Psychiatry 2010; 23:530–535.
4 Poltrum M, Klinische Philosophie. Logos Ästhetikus und Philosophische Therapeutik. Parodos Verlag, Berlin 2010.
5 Musalek M, Neue Wege in der Diagnostik der Alkoholkrankheit. Von einer Defizienz-orientierten zur Ressourcen-orientierten Diagnostik. Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie 2008; 9:46–52.
6 MBSR-Fachkongress: Achtsamkeit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft. Zu den aktuellen Anwendungsfeldern von MBSR und MBCT und deren Wirkungspotenzial. Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien: 29. Juni–1. Juli 2012; www.mbsr-deutschland.de/fachkongress2012
7 Tauss, M, Medizin und Menschenbild zwischen Biologie und Transzendenz. Aldous Huxleys utopisches Vermächtnis aus heutiger Sicht. In: Musalek M, Poltrum M (Hrsg.), Ars Medica. Zu einer neuen Ästhetik in der Medizin. Parodos Verlag, Berlin 2010 und Pabst Science Publishers, Lengerich 2010; 149–180.