Chronobiologie und affektive Erkrankungen

Zirkadiane Rhythmen spielen eine wesentliche Rolle bei fast allen Abläufen des Organismus. Neben dem Schlaf-Wach-Rhythmus sind beispielsweise auch Hormonsekretion, Immunantwort oder physiologische Vorgänge wie Körpertemperatur, Herzfrequenz, Blutdruck, aber ebenso kognitive Leistungsfähigkeit, motorische Aktivität und nicht zuletzt die Stimmungslage einer zirkadianen Modulation unterworfen. So sinken etwa die Körpertemperatur und die Harnsekretion während des Schlafs stark ab, während z. B. die Sekretion von Melatonin in der Nacht zunimmt. Dem Aufwachen geht ein starker Anstieg der Kortisolausschüttung voraus, der über eine Reihe von nachgeschalteten Prozessen zur Aufwachreaktion führt.

Zirkadiane Schrittmacherfunktion der SCN

Gesteuert werden die zirkadianen Rhythmen über eine zentrale „innere Uhr2 in den suprachiasmatischen Nuclei (SCN) im vorderen Hypothalamus. Da beim Menschen der zirkadiane Rhythmus geringfügig länger als 24 Stunden ist, braucht die innere Uhr im SCN eine regelmäßige Synchronisation auf den äußeren 24-Stunden-Tag. Als primärer Synchronisator oder Zeitgeber fungiert das Umgebungslicht, das über das Auge aufgenommen und direkt über den retinohypothalamischen Trakt zum SCN gelangt. Der SCN enthält die höchste Serotoninkonzentration im Gehirn über eine wichtige Afferenz, die Raphékerne. Eine weitere sehr bedeutende Afferenz des SCN ist die Pinealis, der Ort der nächtlichen Melatoninsynthese. Der SCN steuert die tagesrhythmische Freisetzung des Melatonins und erhält über die Melatoninrezeptoren gleichzeitig Rückmeldungen über die Menge des zirkulierenden Melatonins. Neben Licht und Melatonin gibt es noch andere, schwächere Zeitgeber für die zirkadiane Rhythmik wie soziale Signale, Mahlzeiten und körperliche Bewegung1.

Zirkadiane Rhythmik bei affektiven Störungen

Ein wesentliches Merkmal der Depression sind Störungen von biologischen Rhythmen. Studien zeigen bei depressiven Patienten Veränderungen im physiologischen zirkadianen Stimmungsverlauf, mit einem verzögerten morgendlichen Anstieg bei den meisten Patienten. Bei der saisonalen affektiven Störung (SAD) wurde darüber hinaus eine jahreszeitliche Abhängigkeit der Symptomatik mit dem Auftreten depressiver Symptome zu Winterbeginn beobachtet.

Ebenso finden sich bei depressiven Patienten zirkadiane Rhythmusstörungen für verschiedene andere physiologische Parameter: So zeigen sich z. B. eine Abflachung im zirkadianen Verlauf der Körpertemperatur, eine Phasenvorverschiebung für Kortisol im Plasma sowie deutlich veränderte zirkadiane Rhythmen für Prolaktin, Wachstumshormon und Noradrenalin. Auch ein fehlendes nächtliches Ansteigen der Plasmakonzentration von Melatonin ist bekannt2. Klinisch manifestiert sich die Störung der zirkadianen Rhythmen in Schlafstörungen. Bis zu 90 % der Patienten berichten über Insomnie, Einschlafschwierigkeiten und/ oder über häufiges bzw. frühes morgendliches Erwachen, ein kleiner Anteil auch über Hypersomnie3. Die Schlafarchitektur ist charakterisiert durch eine verkürzte Latenz bis zur initialen REM-Phase, vermehrten REM-Schlaf zu Beginn der Nacht, unveränderter REM-Dauer während der folgenden Phasen und einer insgesamt reduzierten Tiefschlafdauer. Ähnlich wie bei unipolarer Depression zeigen auch bipolare Patienten sowohl in depressiven als auch in manischen Phasen Störungen des zirkadianen Rhythmus. Es finden sich Auffälligkeiten in den endokrinen Sekretionsprofilen, in Schlafmustern und im zirkadianen Verlauf von Körpertemperatur und Herzfrequenz, die auf eine Verkürzung des zirkadianen Rhythmus bei bipolaren Patienten hinweisen. Im Gegensatz zur Hyposomnie bei unipolarer Depression leiden Patienten mit bipolarer Störung während der depressiven Phasen häufiger an Hypersomnie4.

Welche Bedeutung zirkadiane Rhythmusstörungen im klinischen Alltag haben, zeigt sich am Beispiel der Schlafstörungen bei Depressionen, die oft dem Beginn einer erneuten Episode voraus – gehen, bei Persistieren das Risiko für Suizid erhöhen und insgesamt einen Risikofaktor für einen schlechteren Verlauf im Längsschnitt darstellen.

1 Wirz-Justice A, Schweiz Med Forum 2011

2 Souetre E et al., Psychiatry Res 1998

3 Thase ME et al., J Clin Psychiatry 2000

4 Lewitzka U, Bauer M, Nervenheilkunde 2011