Das Schöne als Pharmakon

Als ich erstmals mit dem Ausdruck „Ästhetik in der Medizin“ konfrontiert wurde, war ich einigermaßen verwirrt. Meinem alltagssprachlichem Verständnis entsprechend beschäftigt sich „Ästhetik“ mit der Frage „Was ist schön?“ und „ästhetisch“ ist darüber hinaus ein Attribut für Objekte, die vom Betrachter oder von der Betrachterin als „schön“ erlebt werden. Geht es nun darum, Spitäler und Arztpraxen architektonisch möglichst schön zu gestalten, bevorzugt jugendliches und gutaussehendes Personal anzustellen, im Team modebewusste Kleidung zu fordern? Oder soll mit plastischer Chirurgie, Kieferorthopädie und ähnlichen Praktiken das Aussehen der PatientInnen optimiert werden? Oder soll das Interesse der Patienten an den schönen Künsten gesteigert werden?

Ganz offensichtlich weicht das Verständnis von „Ästhetik“ im von Michael Musalek und Martin Poltrum herausgegebenen Werk „Ars Medica. Zu einer neuen Ästhetik in der Medizin“ erheblich von diesem alltagssprachlichen Verständnis ab. In der Einleitung dieses Buches wird von den Herausgebern nachdrücklich betont, dass hier Ästhetik im umfassenden, philosophischen Sinn gemeint ist, der auf die Entstehung des Begriffs in der Antike aufbaut und durch unzählige spätere Reflexionen von bedeutenden Philosophen, Künstlern und Wissenschaftlern beeinflusst ist.

Ebenda präsentieren die Herausgeber unterschiedliche Definitionen und Erläuterungen des Ausdrucks „Ästhetik“ in Form einer Collage, ohne sich dabei explizit auf eine ganz bestimmte Definition festzulegen. Diese Tatsache erschwert es Lesern, die sich, so wie ich, nicht umfassend mit dem „mehrdeutigen“ Begriff „Ästhetik“ in Philosophie und Kunst vertraut gemacht haben, den roten Faden „Ästhetik“ durch das Buch konsequent nachzuvollziehen. Bei mir hat die Lektüre dieses Werks unter anderem bewirkt, dass ich mich mit ergänzenden Texten zur Ästhetik in Philosophie und Kunst auseinandersetzte, wodurch sich mir der den Beiträgen zugrunde liegende roten Faden „Ästhetik“ an manchen Stellen offenbarte, an anderen allerdings nach wie vor verborgen blieb.

„Ästhetik im philosophischen Sinn“

Soweit ich die dem Gesamtwerk implizite Idee von „Ästhetik“ korrekt erfasst habe, basiert diese auf einem umfassenden Verständnis von „Ästhetik im philosophischen Sinn“, das auf das positiv konnotierte Erleben von sensorischen Eindrücken durch Menschen, im Sinne von „Wohlgefallen an etwas finden“, abzielt. Hier ist keinesfalls nur das „Schöne“, sondern auch das „Gute“ und das „Wahre“ gemeint. Damit werden auch Bereiche eingeschlossen, die dem Alltagsverständnis entsprechend der Ethik sowie der Epistemologie zuzurechnen sind. Es geht um emotional gefärbte positive Urteile über Objekte und nicht um faktische Sachurteile.

Der Ausdruck „Ästhetik“ umfasst sowohl die theoretische Auseinandersetzung mit der Frage „Was ist schön, gut und/oder wahr?“ als Antwort auf die Frage „Gibt es etwas, das man allgemein verbindlich als schön, gut und/oder wahr bezeichnen kann?“, als auch die subjektive Zuschreibung des Attributs „ästhetisch“ zu bestimmten Objekten durch Menschen. Der Begriff „Ästhetik einer Epoche“ umfasst sowohl die Art und Weise, wie bestimmte Inhalte in bestimmten Epochen und Kulturen von den Menschen wahrgenommen wurden, als auch wie Künstler und Denker in gewissen Epochen ihre Anliegen darstellten, um beim Rezipienten die gewünschten Eindrücke auszlösen.

In diesem Sinne fiel es mir relativ leicht zu verstehen, was mit „ästhetischer Erfahrung“ gemeint sein könnte, nämlich das Erleben eines Wohlgefühls beim Wahrnehmen oder Vorstellen von Objekten. Weit schwieriger war es für mich zu begreifen, was „eine ästhetische Perspektive in der Medizin einnehmen“ genau bedeutet. Das „stärkere Fokussieren auf das subjektive Erleben der Patienten, statt der Betonung eines wissenschaftlich- rationalen Zuganges in der Forschung“? Das „aktive Fördern der Erlebnisfähigkeit von Patienten“? Beides gleichzeitig? Oder noch mehr? Noch schwieriger fiel es mir zu verstehen, was z. B. ein „ästhetisches Objekt“ sein könnte, da ja über jedes Objekt ein ästhetisches Urteil möglich ist und man mutmaßen kann, dass es kaum Objekte gibt, die noch nie einer ästhetischen Beurteilung unterzogen wurden. Als Wissenschaftler bin ich immer bestrebt, möglichst präzise zu erfassen, was mit einem Begriff in seinem jeweiligen Kontext gemeint ist. Wie weit meine Unfähigkeit, den Bezug der einzelnen Aufsätze zum roten Faden „Ästhetik“ durchgängig herzustellen, als Mangel an philosophischer Bildung meinerseits zu qualifizieren ist, mögen andere beurteilen. Diese Schwierigkeiten haben meinem Genuss bei der Lektüre der einzelnen Aufsätze allerdings keinen Abbruch getan, da die Beiträge für sich betrachtet verständlich formuliert sind und durchwegs interessante Themen ansprechen.

Nun im Detail zu den 13 Beiträgen

  • Michael Musalek setzt sich umfassend mit dem Begriff „Gastfreundschaft“ auseinander und analysiert die Rolle der Patienten, Therapeuten und Pflegenden in Krankenanstalten unter diesem Gesichtspunkt als Gäste und Gastgeber.
  • Rainer Thurnher setzt sich aus einer phänomenologischen Perspektive mit Witz, Humor, Ironie und Lachen auseinander und analysiert, wie dadurch Reflexion und Selbstreflexion gefördert werden, wie diese zur Überwindung von hinderlichen Zwängen und Tabus beitragen und wie sie kathartisches Abreagieren ermöglichen, wodurch diese Spielarten des menschlichen Ausdrucks als Instrumente der Gesundheitsförderung präsentiert werden.
  • Lukas Hartl setzt sich mit den viel – fachen Rollen, die Musik als Therapeutikum im Lauf der Geschichte hatte, auseinander und präsentiert Musik im Rahmen der modernen Musiktherapie als Medium, das über den expressiven und kommunikativen Aspekt des gemeinsamen Musizierens sowie über ihre affektregulierende Funktion therapeutische Wirksamkeit entfaltet.
  • Helmut Albrecht zeigt am Beispiel der Künstlerin Frida Kahlo auf, wie man trotz in vielerlei Hinsicht enorm belastenden Prägungen mittels Kreativität und einer lebensbejahenden Grundhaltung zu einer positiven Lebensgestaltung finden kann.
  • Martin Poltrum setzt sich mit dem Begriff der Utopie in Philosophie und Literatur auseinander – sowohl im Sinne erwünschter Szenarien (Eutopien) als auch im Sinne bedrohlicher Szenarien (Dystopien) – und plädiert für ein ausgewogenes Mittelmaß in der Orientierung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit. Poltrum argumentiert, dass die einseitige Orientierung am Vorhandenen zur Stagnation und die einseitige Orientierung am Möglichen zu Irrationalismus und Tyrannei führt.
  • Martin Tauss stellt am Beispiel des Autors Aldous Huxley das positivistische, wissenschaftliche Menschenbild des „vernunftgeleiteten cartesianischen Subjekts“ einem „biopsychosozio- spirituellen Menschenbild“ gegenüber, das mystische Erfahrungen und Erleuchtung sucht. Er zeigt in diesem Zusammenhang deutliche Sympathie für eine Aufwertung von Spiritualität und Transzendenz im medizinischen Kontext.
  • Günter Gödde beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem für die Psychoanalyse – aber nicht nur für diese – wichtigen Prinzip der Katharsis im Sinne von „Reinigung der Psyche“ durch Ausscheiden bzw. Abreagieren von pathogenen Affekten. In diesem Zusammenhang postuliert er, dass Dichter von jeher die Menschen waren, die am meisten über die Geheimnisse der menschlichen Seele wussten.
  • Der Beitrag von August Ruhs beschäftigt sich ebenfalls mit der Psychoanalyse, wobei er den Fokus auf das Unbewusste und die Bedeutung des Bildes für die Psychotherapie legt.
  • In seinem zweiten Aufsatz kritisiert Martin Poltrum, dass der Begriff „Mythos“ gegenwärtig meist im Sinne von unglaubwürdigen Märchen negativ konnotiert wird, und vertritt die Meinung, dass Musen, Sirenen, Nixen, Nymphen und Feen aus phänomenologischer Sicht neu beleuchtet gehören und generell mythische Figuren in der Psychotherapie eine größere Rolle als gegenwärtig spielen sollten. Obwohl auch mir die Bedeutung von Mythen als Metaphern für reale Phänomene sehr wichtig erscheint und ich daher einer positiven Konnotierung von Mythen sehr aufgeschlossen gegenüber stehe, kann ich Poltrums Aussagen, der so weit geht, dass er den mythischen Figuren ein eigenes Sein zuspricht, nur sehr bedingt nachvollziehen.
  • Guenda Bernegger und Michael Musalek stellen der deskriptiven, objektiven, repräsentativen oder reproduktiven Wahrheit eine künstlerische, narrative, metaphorische, analoge, produktive Wahrheit gegenüber und der streng deskriptiven Sprache eine expressive künstlerische Sprache – und vertreten, dass Therapeuten Patienten dabei unterstützen sollten, im Sinne eines künstlerischen Aktes ihre Vergangenheit und ihr Selbstbild schöpferisch in einer für ihre Situation günstigen Form zu kons truieren bzw. zu rekonstruieren. Zentraler Gedanke ist auch hier die Betonung des Möglichen angesichts einer, für Suchtpatienten oft nicht befriedigenden Wirklichkeit, womit dem Thema, dem sich Martin Poltrum unter dem Titel „Utopie“ in seinem ersten Text ausführlich widmet, eine weitere Facette hinzugefügt wird.
  • Hinderk M. Emrich schließlich bricht, bezugnehmend auf das Werk Friedrich Schillers, eine Lanze dafür, das Schöne im Leben zu entdecken und räsoniert über die Heilkraft des Schönen.
  • Jann E. Schlimme unternimmt eine phänomenologische Bestimmung des Begriffs „Selbstbestimmung“ von psychiatrischen Patienten als Voraussetzung für ein „gutes Leben“ und wendet sich gegen die Überzeugung, dass man anderen mit Bestimmtheit sagen könne, wie ein „gutes Leben“ für diese aussähe.
  • Christian Haring schließlich setzt sich kritisch mit den Gefahren einer Überbetonung der Ästhetik in der Medizin auseinander, die zur Ablehnung des Kranken, des Hässlichen, des Ekelhaften etc. führen könnte und an deren Ende Eugenik steht. Er wendet sich auch dagegen, Medizin primär aus einer ökonomischen Perspektive zu bewerten und warnt vor der Blindheit gegenüber den Gefahren der missbräuchlichen Verwendung von Psychiatrie als Instrument der sozialen Kontrolle.

Zusammenfassend kann ich die Lektüre des Buches empfehlen. Wie bereits erwähnt, die Beträge sind inhaltlich gut verständlich formuliert, stellen interessante Bezüge her und regen zum Nachdenken an. Ich vermute allerdings, dass es dem in Fragen der philosophischen Ästhetik wenig kundigen Leser, so wie mir, nicht immer leicht fallen wird, den Bezug zum übergeordneten Thema „Ästhetik“ an allen Stellen präzise und konsistent nachzuvollziehen.