Die Welt der Psychopharmaka – eine Welt der Vorurteile

„Alles – nur ja keine Psychopharmaka“, „Ich nehme doch nichts, was meine Persönlichkeit verändert“, „Psychopharmaka vertrage ich nicht“, „Psychotherapie ja, Psychopharmakotherapie nein“. Wer, der sich mit der Behandlung von psychisch Kranken beschäftigt, hat nicht schon solche oder ähnliche Sätze gehört? Es gibt kaum einen medizinischen Bereich, mit Ausnahme vielleicht der Elek­troheilkrampftherapie, der mit mehr Vorurteilen gepflastert ist als jener der Behandlung mit Psychopharmaka.

Nichtwissen, Unwissen, Falschwissen

Vorurteil steht hier nicht für vorwissenschaftliche Existenzannahmen der empirischen Forschung im Sinne Husserls. Vorurteil steht hier auch nicht für die Nietzschesche „Wissenschaft als Vorurteil“, also auch nicht für jenen von ihm in „Die Fröhliche Wissenschaft“ kritisierten „Glauben, mit dem sich jetzt so viele materialistische Naturforscher zufriedengeben, einem Glauben an eine Welt, welche im menschlichen Denken, in menschlichen Wertbegriffen ihr Äquivalent und Maß haben soll, an eine ‚Welt der Wahrheit‘, der man mithilfe unserer viereckigen Menschenvernunft letztgültig beizukommen vermöchte …“ und daher auch nicht für jene „gläubigen Naturwissenschaftler“, denen Nietzsche entgegenschleudert: „… – wie? Wollen wir uns wirklich dergestalt das Dasein zu einer Rechenknechtsübung und Stubenhockerei für Mathematiker herabwürdigen lassen?“
Vorurteil steht hier viel allgemeiner für all die heute so mannigfach anzutreffenden Überzeugungen, die auf vollständigem oder zumindest weitgehendem Nichtwissen, Unwissen bzw. Falschwissen basieren und die ob ihrer Absurdität nicht aufgegeben werden können, da man bei Verlassen derselben sich ja gerade deren Absurdität eingestehen müsste.
Im Folgenden sollen nur vier dieser Vorurteile hervorgehoben werden; zum einen, weil gerade sie die zentralen sind, um die sich all die anderen ranken, und zum anderen deshalb, weil gerade sie besondere Leiden bei jenen hervorrufen, die in Krankheitszustände geraten, die eine Behandlung mit Psychopharmaka notwendig machen:das „Vergiftungsvorurteil“ (man wird mit Psychopharmaka vergiftet – Psychopharmaka sind per se schädlich);

  1. das „Psychotherapievorurteil“ (Psychotherapie ist besser als Psychopharmakotherapie);
  2. das „Persönlichkeitsveränderungsvorurteil“ (Psychopharmaka verändern die Persönlichkeit des Einzelnen) und
  3. das „Gesellschaftsverarmungsvorurteil“ (Psychopharmakaverschreibungen führen uns in gesellschaftliche Verarmung und Verschuldung)

Das Vergiftungsvorurteil

Zum ersten Vorurteil, demjenigen der Vergiftung und Schädigung durch Psychopharmaka, ist anzumerken, dass ohne Zweifel Psychopharmaka in einer Weise und Menge zu sich genommen werden können, dass Schädigung bzw. Vergiftung die unmittelbaren Folgen sind. Genauso zweifelsfrei stimmt aber auch der Satz, dass Psychopharmaka – und hier vor allem die moderneren unter ihnen –, in richtiger Art und Dosierung verabreicht, durchaus positive Wirkungen entfalten können. Wie wir alle wissen, entscheidet bei allen Substanzen, die wir unserem Körper zuführen, vor allem die Dosierung darüber, ob der Körper davon geschädigt wird oder nicht. So können wir einerseits problemlos Salzsäure trinken (wenn sie nur genügend verdünnt ist), und andererseits kann bestes Hochquellwasser jemanden zu Tode bringen, wenn es in entsprechender Überdosierung dem menschlichen Organismus zugeführt wird. Diese chemisch-physiologische Binsenweisheit wird aber leider von vielen, gerade wenn es um die Einnahme von Psychopharmaka geht, negiert.
Von den meisten Patienten werden Psychopharmaka zumindest als potenziell gefährlich, von manchen sogar als schädlich eingestuft, überhaupt dann, wenn sie ihnen erstmals verschrieben werden. Eine besondere Absurdität erlangt dieses Vorurteil, wenn Alkoholkranke, Medikamentenabhängige bzw. Ko­kain- oder Heroinsüchtige es ablehnen, Psychopharmaka einzunehmen, mit dem Argument, sich doch nicht vergiften zu wollen.
Die so weitverbreitete Ablehnung von Psychopharmaka spiegelt natürlich auch den Zeitgeist wider, möglichst nur Natürliches und nichts Künstliches (was auch immer darunter verstanden wird) zu sich zu nehmen. Das war nicht immer so. Es gab auch Zeiten, in denen das Gegenteil en vogue war. In den 60er- und 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts gingen manche sogar so weit, keine Früchte mehr zu essen, sondern die notwendigen Vitamine nur noch in Pillenform zu sich zu nehmen. Beide Umgangsweisen, die völlige Ablehnung ebenso wie die nicht minder unkritische Verherrlichung von Medikamenten im Allgemeinen und diejenige von Psychopharmaka im Besonderen, sind für eine zielführende Behandlung von Krankheitszuständen nicht nur wenig hilfreich, sondern sie versperren kranken Menschen den Zugang zu einer differenzierten Therapieplanung und sind daher auch strikt abzulehnen.

Das Psychotherapievorurteil

Im Rahmen des zweiten Vorurteils, dass Psychotherapie insgesamt besser wäre als Psychopharmakotherapie, stellt sich die Frage, was denn mit diesem „besser“ gemeint sei. Üblicherweise rekurriert man bei Beantwortung dieser Frage auf eine „bessere Verträglichkeit“. Im Gegensatz zur Psychopharmakotherapie wird Psychotherapie nicht nur als wirksam, sondern gleichzeitig auch als ungefährlich angesehen – und das, obwohl das Gefahrenpotenzial der Psychotherapie prinzipiell wesentlich höher als jenes der Pharmakotherapie einzuschätzen ist: Die Nebenwirkungen eines Medikaments verschwinden in der Regel, von wenigen Ausnahmen abgesehen, mit Einnahmestopp derselben wieder. Nicht so in der Psychotherapie – auch sie hat neben den erwünschten Effekten da und dort unerwünschte Begleiterscheinungen; nur hören diese nicht einfach auf zu wirken, nur weil man die Psychotherapie „beendet“. Besonderes Gefahrenmoment sind hier all jene, die – ebenso wie in den Pionierzeiten der Pharmakotherapie als die Pharmakotherapieapostel auszogen, um Penicillin und Kortison als Allheilmittel zu predigen, was zu einem dementsprechend unkritischen und übermäßigen Einsatz derselben führte – als Psychotherapieapostel die Psychotherapie als nebenwirkungsfreie Alternative zur medikamentösen Therapie anpreisen und damit alle Tore für eine kritiklose Anwendung derselben öffnen.

Das Persönlichkeitsveränderungsvorurteil

Von besonderer Absurdität ist das dritte Vorurteil, nämlich jenes der persönlichkeitsverändernden Wirkung von Psychopharmaka. Zum einen deshalb, weil – wenn überhaupt – dieses Gefahrenmoment eher bei psychotherapeutischen Interventionen zu verorten ist, und zum anderen, weil hier Psychopharmaka in ihren Wirkungen und Auswirkungen völlig überschätzt und die Möglichkeiten des sie einnehmenden Menschen völlig unterschätzt werden.
Psychopharmaka, so wie sie heute im legalen Handel erhältlich sind, wie z. B. Antidepressiva, Tranquilizer, Neuroleptika etc. können immer nur bestimmte psychische Teilfunktionen beeinflussen. Sie können die Persönlichkeit eines Menschen nicht grundlegend ändern, ja sie können nicht einmal Krankheiten zum Verschwinden bringen. In der heute so weit verbreiteten wie hochgeschätzten Indikationsmedizin wird uns glauben gemacht, dass es nun Psychopharmaka gebe, die gegen Major Depression, generalisierte Angststörung, Schizophrenie oder Suchterkrankungen wirken. Aber natürlich wirken Psychopharmaka nicht gegen die von Menschenhand geschaffenen und dann im Beipackzettel des jeweiligen Medikaments unter Indikationen angeführten Krankheitskonstrukte – wie sollte auch eine chemische Substanz gegen ein Gedankenkonstrukt des Menschen wirken?!
Besonders deutlich ist dies am Beispiel der Neuroleptikawirkungen zu demons­trieren. Letztere werden üblicherweise als gegen die Schizophrenie wirksam ausgezeichnet. Sie wirken aber nicht gegen die Schizophrenie (was immer man auch darunter verstehen mag), ja höchst wahrscheinlich nicht einmal unmittelbar gegen jene Symptome, die heute (möglicherweise sogar zu Unrecht) als typisch für die Schizophrenie angesehen werden, wie z. B. Wahn oder Halluzinationen.
Was sie aber hervorragend bewirken, ist eine innere Distanzierung von wahnhaften und halluzinatorischen Erlebnisweisen, die im Rahmen von Krankheitsprozessen, die wir heute mit „schizophrener Störung“ titulieren, in Erscheinung treten. Diese durch Neuroleptika bedingte Distanzierung von beeinträchtigenden Erlebnisweisen bleibt auch keineswegs auf schizophrene Erkrankungen beschränkt; wenn gleiche bzw. ähnliche Erlebnisformen im Rahmen anderer Krankheiten auftreten, sprechen auch diese gut auf Neuroleptika an.
Unsere Persönlichkeit, als ein Mehr als die Summe aller Möglichkeiten und Unmöglichkeiten unseres leiblichen Daseins mit all unseren Ausgerichtetheiten im Wollen, Streben und Handeln, kann immer nur von uns selbst, und dann auch nur bis zu einem gewissen Grade, verändert werden. Mit Hilfe von Psychopharmaka werden also weder „Persönlichkeit“ noch „psychische Krankheit“ verändert, es können aber mit deren Hilfe z. B. Ängste und Befürchtungen gelindert, depressive Verstimmung zum Abklingen gebracht, eine Distanzierung von halluzinatorischen Erlebnissen erreicht oder eine Verminderung eines Cravings erzielt werden, um nur einige wenige Bespiele einer durch Psychopharmaka bewirkten Funktionsänderung zu nennen.

Das Gesellschaftsverarmungsvorurteil

Das vierte hier zu nennende Vorurteil, jenes, dass Psychopharmaka besonders hohe Kosten verursachen und damit zu besonderer Verschuldung unserer Gesellschaft beitragen, erlangte gerade in letzter Zeit enorme Popularität. Wer kennt nicht Sätze wie: „die Kosten der Psychopharmaka steigen ins Unermessliche“, „die Kosten der Psychopharmaka nehmen bereits den zweiten Platz in der Preishitliste der Medikamente ein …“ Dabei bleibt meist unbeachtet, dass auf der einen Seite alle gegen psychische Erkrankungen eingesetzten Medikamente zusammengefasst werden, auf der anderen Seite aber die gegen körperliche Erkrankungen im Einzelnen aufgelistet werden – ein direkter Vergleich der Medikamentenkosten für alle psychischen Erkrankungen einerseits und für alle körperlichen Erkrankungen andererseits würde, überhaupt im Lichte des Umstandes, dass ungefähr 40 % der in einer allgemeinmedizinischen Praxis behandelten Menschen, auch eine behandlungsnotwendige psychische Störung aufweisen, ganz anders aussehen; ein zweiter Platz in der Preishitliste erschiene dann auch nicht mehr weiter aufregenswert.
Eine weitere in der heutigen Kostendiskussion immer wieder vorgebrachte Absurdität wird aber immer unverständlich bleiben: Wenn heute eine Straße gebaut wird, wenn ein Stück Natur zubetoniert wird, wenn ein Loch in einen Berg gegraben wird, dann spricht man von wirtschaftsankurbelnden Investitionen. Wenn aber im Rahmen einer medizinischen Behandlung Menschen wieder gesund werden, ja selbst dann, wenn sie wieder arbeitsfähig werden, dann spricht man immer nur von Kosten, die dadurch verursacht wurden. Auch wenn im Gesundheitssystem neue Arbeitsplätze geschaffen bzw. Maßnahmen gesetzt werden, die eine medizinische Behandlung effektiver machen, verursacht das nur Kosten und wird nicht als wirtschaftsnotwendige Investition geachtet, selbst dann nicht, wenn dadurch neue Arbeitsplätze und Arbeitskräfte geschaffen werden.
Mit Worten schafft man Realitäten. Worte schaffen Welten. Dort wo man, aus welchen Gründen auch immer, Geld hinschaffen möchte, spricht man von notwendigen Investitionen; dort, wo man sparen möchte und gleichzeitig vorgibt, sparen zu müssen, spricht man von Kosten; von Kosten, die dann auch noch als so hoch ausgewiesen werden, dass „man sie sich gar nicht mehr leisten könne“ – da stört es offenbar heute nur wenige, dass gleichzeitig viel mehr Geld für viel weniger heilbringende „Investitionen“ aufgebracht wird. Die mannigfachen diesbezüglichen Wortspenden zum gegenwärtigen Gesundheits- und Bankenwesen bedürfen hier keines weiteren Kommentars.

Auch die Welt der Psychopharmaka (leider richtiger: die Welt der Psychopharmakavorurteile) ist eine solche Welt, die wir uns selbst geschaffen haben. Und da wir sie selbst geschaffen haben, liegt es auch an uns, wie diese in der Zukunft beschaffen sein wird, wie sie aussehen wird und welche Wirkungen sie entfalten wird.
Möge dieses Themenheft dazu beitragen, dass die zukünftige Welt der Psychopharmaka eine vorurteilsärmere und damit eine für uns und unsere Patienten bessere Welt wird! Das wünscht uns allen

Ihr

Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Musalek