Ein Meisterwerk: Henry F. Ellenbergers „Entdeckung des Unbewussten“

Ein Archiv besprechen

Wenn man das über 1.200 Seiten starke Buch „Die Entdeckung des Unbewussten, Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung“ bespricht, das nach zwanzigjähriger Forschungsarbeit entstanden ist, dann steht man vor einer Aufgabe, an der man nur scheitern kann. Wie ein Archiv besprechen? Denn im Grunde handelt es sich um ein Archiv, das Ellenberger, der zuletzt in Montreal einen Lehrstuhl für Kriminologie inne hatte, zusammentrug. Der in der britischen Kolonie Rhodesien geborene „Archivar des Unbewussten“ war dem Französischen, Deutschen und Englischen nicht nur in Sprache und Schrift mächtig und daher in der Lage, viele heute kaum oder nur mehr sehr schwer zugängliche Originalquellen zu studieren, sondern hatte auch die Fähigkeit, sehr genaue historische Recherchen und unendliches Faktenwissen vergleichend und systematisierend in der Form eines Kriminalromans aufzubereiten. Denn wie ein Roman, von dem man nicht lassen kann, mit dem man aber unter Umständen ein halbes bis dreiviertel Jahr beschäftigt ist, liest sich der seltene Glücksfall zur Entdeckung des Unbewussten. Im Grunde ein Buch, das jeder, der Psychotherapeut werden möchte oder es bereits ist, gelesen haben muss. Das Werk ist ein einzigartiger Augenöffner. Alles, was Rang und Namen hatte, kommt zur Sprache – und wie große Ehrfurcht und Wertschätzung Ellenberger vor den Therapeuten und Denkern hat, die er erwähnt und bespricht, das wird überdeutlich.

Jede Zeit hat ihre Behandlung Warum sich Systeme und Methoden zur Behandlung von psychischen Erkrankungen ablösen, hat nicht nur mit dem jeweiligen wissenschaftlichen Fortschritt und den Erkenntnissen der einzelnen Fachdisziplin zu tun, sondern ist auch auf mannigfaltige Weise von den sozioökonomischen und politischen Hintergründen und den jeweiligen Strömungen des Zeitgeistes abhängig. Dass Franz Anton Mesmer (1734–1815) und sein Magnetismus die Praktiken des ebenfalls für die damalige Zeit bereits fortschrittlichen Exorzisten Johann Joseph Gassner (1727–1779) ablösten, hat wahrscheinlich schlichtweg damit zu tun, dass der Geist der Aufklärung auch sonst überall dem bösen Zauber und dunklen Mächten den Garaus machte und daher übersinnliche Erklärungen für psychiatrische Störungen aus der Mode kamen. Dass der aus dem Mesmerismus entstandene Hypnotismus dann später durch modernere psychotherapeutische Verfahren ersetzt wurde, u. a. die Psychoanalyse, hat auch damit zu tun, dass durch die Industrielle Revolution neben zahlreichen mittellosen Proletariern eine Oberschicht entstanden ist, die nach einer nichtautoritativen Psychotherapie verlangte.

Der Zauberbaum

All das erfahren wir bei Ellenberger, der wie Peter Sloterdijk einmal meinte, der „beste Fremdenführer durch das eigene Innere“ sei. „Niemand führt so diskret, so eindringlich, so wohlinformiert, so umfassend durch die Katakomben der Tiefenpsychologie.“ Für Sloterdijk dürfte vor allem das Kapitel über Marquis de Puységur, wahrscheinlich der bedeutendste Schüler von Mesmer und derjenige, der zur Erweiterung und nachhaltigen Verbreitung des Magnetismus beigetragen hat, von Bedeutung gewesen sein. Handelt doch Sloterdijks Roman „Der Zauberbaum“ (1985) u. a. von den Behandlungstechniken des französischen Adeligen. Der philanthropische Marquis hatte eine so große Patientennachfrage zu bewältigen, dass er eine Gruppenbehandlung erfinden musste – die erste Gruppentherapie, wenn man so will.

Das besondere und originelle daran war, dass der Hauptakteur des Settings ein magnetisierter Baum war. Ellenberger: „Puységur hatte bald so viel Zulauf von Patienten, dass er eine Kollektivbehandlung einführte. Der öffentliche Platz des kleinen Dorfes Buzancy, umgeben von strohgedeckten Hütten und Bäumen, war nicht weit entfernt von dem majestätischen Schloss Puységurs. Inmitten dieses Platzes stand eine große, schöne, alte Ulme, an deren Fuß eine Quelle ihr klares Wasser hervorsprudelte. Sie war von Steinbänken umgeben, auf denen sich die Bauern niederließen; in die Hauptäste des Baumes und um den Stamm herum hängte man Seile; die Patienten wickelten die Seilenden um die erkrankten Teile ihres Körpers. Die Prozedur begann damit, dass die Patienten eine Kette bildeten, indem sie einander bei den Daumen hielten, und sie fühlten in stärkerem oder geringerem Maß, wie das Fluidum sie durchströmte. Nach einer Weile befahl der Meister, die Kette solle aufgelöst werden und die Patienten sollten sich die Hände reiben. Dann wählte er einige von ihnen aus und versetzte sie durch die Berührung mit einem eisernen Stab in eine ‚vollkommene Krise‘. Diese Personen, nun ‚Ärzte‘ genannt, diagnostizierten Krankheiten und verordneten Behandlungen. Um sie wieder zu ‚entzaubern‘ (d. h. um sie aus ihrem magnetischen Schlaf zu wecken), befahl ihnen Puységur, den Baum zu küssen, worauf sie erwachten; sie erinnerten sich an nichts von dem, was geschehen war. Diese Behandlungen wurden im Beisein neugieriger und begeis – terter Zuschauer ausgeführt. Es wurde berichtet, im Verlauf von wenig mehr als einem Monat seien in Buzancy von 300 Patienten 62 von verschiedenen Leiden geheilt worden.“ (H. F. Ellenberger 1996, S. 115)

Von der Hypnose zur modernen Psychotherapie

Zahlreiche Diskurse und Debatten werden von Ellenberger rekonstruiert. So erfahren wir von den Streitigkeiten der zwei großen französischen Psychiatrieschulen, der Schule von Nancy, vertreten von Hippolyte Bernheim (1840–1919), und der Schule der Salpêtrière, vertreten durch Jean-Martin Charcot (1825– 1893), ebenso wie von der enormen Bedeutung, die damals die Hypnose hatte. Der Hypnotismus war nicht nur die Behandlungsmethode der damaligen Zeit und diente als Anregung für eine Vielzahl von Romanen (S. 242), sondern war auch Gegenstand heftigster juridischer Kontroversen. War es möglich, dass Leute unter Hypnose kriminelle Handlungen begingen? Erfüllen Hypnotisierte sexuelle Wünsche des Therapeuten? Vor allem die zahlreichen Bühnenhypnotiseure, welche die Jahrmärkte mit hypnotischen Demonstrationen und Zurschaustellungen übersäten, prägten das populäre Bild und Verständnis des einfachen Mannes. Im Jahr 1888 erstellte Max Dessoir eine Bibliographie, die 801 Titel zum Thema Hypnotismus (S. 1016) anführte, ein paar Jahre später musste er diese um weitere 382 Titel ergänzen. Das zeigt, was für ein Interesse dieses Phänomen damals auf sich zog.

Durch Bernheim, der Suggestibilität als „die Eignung, einen Gedanken in eine Handlung umzuwandeln“ definierte und der darin eine Eigenschaft sah, die alle Menschen in verschiedenem Grad besäßen (S. 140), kam um 1900 allmählich der Begriff der Psychotherapie in Mode (S. 448). „Im Laufe der Zeit verwendete Bernheim die Hypnose immer seltener; er behauptete, die durch diese Methode erzielbaren Wirkungen seien ebenso durch Suggestion im Wachzustand zu erreichen, ein Verfahren, das die Schule von Nancy nun als Psychotherapeutik, also mit einem neuen Ausdruck, bezeichnete.“ (S. 140)

Pierre Janet und Sigmund Freud – der sich zu Studienzwecken ja eine Zeit lang bei Bernheim und Charcot aufhielt – entwickelten dann weitgehend unabhängig voneinander das weiter, was im Grunde schon im Hintergrund des Mesmerismus und des Hypnotismus stand. Die klinische Erfahrung, dass die Seele aus mehreren Bereichen, einem Bewussten und einem Unbewussten, besteht und es darin ein ganzes Bündel von parapersonalen Entitäten und Subpersonen gibt. Vor allem die Ideen und das Werk des leider fast vergessenen Pierre Janet (1859–1947), von dem sich Freud aufgrund allzu großer inhaltlicher Nähe stark abgrenzte und distanzierte, dessen Name im Zusammenhang mit den ersten Beschreibungen von dem, was man heute als „Dissoziative Störungen“ bezeichnet, hin und wieder fällt, werden von Ellenberger gewürdigt. Von Janet, der sich mit „Doppelpersönlichkeiten“, „multiplen Persönlichkeiten“ und einer Art „Seelenbündeltheorie“ beschäftigte, stammt die sehr kluge Erfahrung und Einsicht, dass die Benennung und Namensgebung eine unbewusste Subperson fassbarer und händelbarer macht. „Wenn sie erst ‚getauft‘ ist, wird die unbewusste Persönlichkeit klarer und bestimmter; sie zeigt ihre psychologischen Züge deutlicher.“ (P. Janet bei H.-F. Ellenberger, S. 205)

Der Zeit ihre Störung

Das sind im Grunde lauter Dinge, die weitgehend bekannt sind. Dass sie aber überhaupt bekannt geworden sind, das verdanken die Psychiater und Psychotherapeuten der letzten Generationen vor allem der Studie von Henry F. Ellenberger. Das Spannende am Buch ist nicht nur, dass man viele Details erfährt und Zusammenhänge verstehen lernt, sondern dass Ellenberger nicht wertet. Jede geschichtliche Epoche hat ihre Behandlungstechniken und vor allem ihre Störungen, die auftauchen, eine Zeit lang die Symptome der Patienten, die wissenschaftlichen Diskurse der Psychiater und die Methoden der Behandlung dominieren und dann wieder verschwinden. Ob zuerst die Symptome einer Störung da sind oder ob eine vermehrte Diskursivierung zur gesteigerten Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und damit zur „Erfindung“ einer Störung beiträgt, lässt sich nicht genau klären. Wahrscheinlich handelt es sich eher um eine Gleichzeitigkeit bzw. Wechselwirkung denn um eine Kausalitätsbeziehung in die eine oder andere Richtung. Das kann man am Beispiel der Hysterie, die Ellenberger breit thematisiert, exemplarisch verstehen lernen und im besten Fall in die Gegenwart und auf ihre Modestörungen bzw. Behandlungen übertragen.

Witz und höhere Ironie

Dass „Die Entdeckung des Unbewussten“ alles andere als eine trockene Lektüre darstellt und meisterhaft die Balance zwischen geisteswissenschaftlichem Tief – sinn und erkenntniserschließender Ironie hält, sei abschließend noch kurz erwähnt. Nicht nur, dass Ellenberger hin und wieder einen damals kursierenden Witz wiedergibt, sondern es werden auch Wahrheiten und Unterschiede zwischen Denkansätzen auf anekdotische und simple Weise einprägsam gemacht. So lesen wir nüchtern und trocken zur unterschiedlichen Auffassung des Ödipuskomplexes von Freud und Jung: „Freud war der geliebte erstgeborene Sohn einer schönen jungen Mutter gewesen, während Jung das Bild einer hässlichen, ambivalenten Mutter vor Augen blieb. Der Gedanke, jeder kleine Junge müsse in seine Mutter verliebt und auf seinen Vater eifersüchtig sein, erschien ihm absurd.“ (S. 886) Oder, um ein zweites Beispiel zu bringen, ein Witz von damals, den Ellenberger erzählt, ging angeblich so: „Warum gehen bestimmte Frauen zu Freud, andere zu Jung? Die ersten sind Freudenmädchen, die letzteren Jungfrauen.“ (S. 1101)