Leben mit psychischer Erkrankung – die Perspektive der Angehörigen

Unverständnis, Fassungslosigkeit, Verleugnung und Unwissenheit prägen die ersten Erfahrungen mit einer psychischen Erkrankung in der Familie. Rückblickend erzählen viele Angehörige, dass ihnen Veränderungen wie Rückzug, Isolation, Gereiztheit wohl aufgefallen sind, aber sie immer wieder Alltagserklärungen dafür gefunden haben wie z. B.: „Ich dachte, das ist die Pubertät oder er hat Stress in der Schule.“ „Das Studium ist eine Herausforderung und sie lebt erstmals alleine in einer Wohnung, in einer fremden Stadt – sie löst sich von zu Hause.“ „Wenn er wieder weniger Alkohol trinkt oder zumindest das Kiffen lässt, wird er schon wieder der Alte.“ Diese oder ähnliche Gedanken helfen manchen Angehörigen, sich die erkrankungsbedingten Veränderungen zu erklären, sich damit zu beruhigen, an eine positive Entwicklung zu glauben.

Die meisten psychischen Erkrankungen sind noch so tabuisiert, dass ein großer Teil der Bevölkerung nichts darüber weiß, ja nichts darüber wissen will.

Es gibt so viele andere Erklärungen, denen nicht das Stigma der Unheilbarkeit, der sozialen Ausgrenzung und des sozialen Absturzes anhaftet. Und wirklich, manchmal gelingt am folgenden Tag wieder ein gutes Gespräch, kommt der völlig zurückgezogene Sohn frisch geduscht zum Mittagstisch, ist die Angst der Tochter vor einer Vergiftung nicht mehr das alles bestimmende Thema. Aber manchmal, leider viel zu oft, ist es am nächsten Tag, ein paar Tage später, wieder schlimm, beängstigend, verunsichernd, lähmend.

Die Diagnosen

Viele der Angehörigen, die zu HPE, der Selbsthilfevereinigung der Familien und Freunde psychisch erkrankter Menschen in Österreich, kommen, seien es die Eltern, Partner, Kinder oder andere nahestehende Menschen der Erkrankten, erzählen von einer langen, verwirrenden Leidensgeschichte, bevor eine psychische Erkrankung vermutet oder sie auch diagnostiziert wird. Bei rund einem Drittel der Personen, die zu uns kommen, sind die Erkrankten nicht in Therapie oder Betreuung. Hier versuchen die Angehörigen für sich zu klären, ob sich die Vermutung erhärtet und wenn dies so ist, sich zu informieren, wie das erkrankte Familienmitglied Hilfe bekommen kann. Fast jeder Angehörige erinnert sich an den Moment, als er zum ersten Mal die (oder besser: eine) psychiatrische Diagnose erfahren hat. Viele können sich sogar noch an die Formulierungen erinnern, wobei die Bandbreite von niederschmetternd („Das ist Schizophrenie, den können sie vergessen.“) über verwirrend („Ihr Dopaminstoffwechsel im Gehirn ist gestört, wir nennen das Schizophrenie“) bis Hoffnung gebend reicht („Ihr Mann kann derzeit seine Eindrücke nicht richtig verarbeiten und ist dadurch sehr belastet und überfordert, wir wollen ihm helfen, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Wir vermuten eine schizophrene Störung, brauchen aber noch mehr Zeit mit ihm, um das zu klären.“). Ebenso unterschiedlich sind auch die Reaktionen der Angehörigen. Für manche löst die psychiatrische Diagnose (vor allem bei Schizophrenie oder dem noch immer kursierenden „Manisch-Depressiven Irreseins“) Angst und Ablehnung aus. Das, was der Angehörige über diese Erkrankungen weiß, passt doch so gar nicht auf die eigene Partnerin, den eigenen Sohn. Für andere wieder ist die Diagnose der Schlüssel zur Klärung all der Verwirrungen und chaotischen Erfahrungen der letzten Zeit. Wichtig ist für Angehörige auch, wie der Betroffene mit der Diagnose umgeht, sie in die eigene Erklärung der Geschehnisse einbaut, denn nicht zwangsläufig sehen Angehörige und Betroffene die Erkrankung gleich. Mehr Einigkeit besteht meist bei der Angst vor der stigmatisierenden Wirkung des Labels der psychiatrischen Diagnose.

Soziale Ressourcen

Viele psychisch erkrankte Menschen verlieren einen großen Teil ihrer sozialen Kontakte, die Ausbildung wird abgebrochen, der Job kann nicht gehalten werden, Freunde und Bekannte trifft man seltener. Meist bleiben nur mehr die eigene Kernfamilie oder einzelne Familienmitglieder als soziale Ressource übrig. Diese Angehörigen versuchen dann oft alles Fehlende zu ersetzen: Betreuung, Hilfe im Haushalt, Tagesstruktur, Beschäftigung, Freunde, Motivation zur Therapie, Geld etc. Manchmal ist das zu viel für den Betroffenen, dem durch zu viel Unterstützung eigene Fähigkeiten genommen werden, aber auch zu viel für den Angehörigen, der in seiner gefühlten Verpflichtung, seinem Wunsch zu helfen, weit über die eigenen Belastungsgrenzen oder die Grenzen der eigenen Ressourcen geht.

Die Erfahrung zeigt, dass ein großer Teil der Menschen mit einer psychischen Erkrankung aktiv Hilfe sucht und auch annimmt, wann immer er diese braucht, aber auch, dass viele schwer erkrankte Menschen keine Therapie oder professionelle Hilfe bekommen und ausschließlich auf Hilfe aus dem persönlichen Umfeld angewiesen sind. Die überwiegende Mehrheit der Angehörigen ist sehr bemüht, dem Betroffenen zu helfen. Grundvoraussetzung dafür ist Wissen über die Erkrankung. War vor 30 Jahren HPE eine der wenigen Informationsquellen für Angehörige, kommen heute schon viele sehr gut informierte Menschen zu uns. Das Internet bietet viele Informationen, aber auch in psychiatrischen und psychosozialen Einrichtungen gewinnt die Information der Angehörigen immer mehr an Bedeutung. Es gibt immer weniger Mitarbeiter, die sich vor dieser wichtigen Aufgabe hinter einer falsch interpretierten therapeutischen bzw. ärztlichen Schweigepflicht verstecken.

Grenzen der Belastbarkeit

Die psychische Erkrankung betrifft nicht nur den Erkrankten, sondern auch dessen nahe Bezugspersonen. Ehe man sich’s versieht, steht die Erkrankung nicht nur im Leben der Patienten, sondern aller Familienmitglieder, im Mittelpunkt. Gedanken, Pläne, Wünsche, aber auch die Gespräche sind von der Erkrankung geprägt. Eigentlich weniger die Erkrankung, als vielmehr die erkrankte Person ist es, um die sich das gesamte Familienleben dann zu drehen scheint. Eigene Bedürfnisse werden hintan gestellt, nicht zugelassen. Besonders betroffen sind hier die Kinder und Jugendlichen mit psychisch erkrankten Eltern(-teilen). Noch viel zu oft werden sie und ihre für die Entwicklung so wichtigen Bedürfnisse übersehen, werden sie der Achterbahn der Gefühle haltlos ausgeliefert. Auch die Sorge um diese Kinder ist eine große Herausforderung für die (erwachsenen) Angehörigen.

Manchmal wird die Not der Angehörigen erkannt und der gut gemeinte Ratschlag erteilt: „Tun Sie etwas Gutes für sich.“ Ein Schlag ins Gesicht jener Angehörigen, die von Sorge zerfressen und von der Notwendigkeit der Hilfe getrieben sind. Die eigenen Bedürfnisse wieder wichtig nehmen, ist das Ziel, aber nicht der erste Schritt. Zuerst gilt es, die Fähigkeiten und Ressourcen des psychisch erkrankten Familienmitgliedes sehen zu lernen, Optionen für die Zukunft zu erkennen, zu erleben, dass auch andere den Betroffenen erfolgreich unterstützen, Rückschläge als Teil der Entwicklung zu akzeptieren, und vor allem die Hoffnung, die Zuversicht nicht zu verlieren – ein Prozess, der Angehörige vor unterschiedlich große Herausforderungen stellt. Gespräche mit anderen Angehörigen, in deren Erzählungen man eigene Erfahrungen wiederfinden und neue Perspektiven gewinnen kann, helfen vielen Angehörigen weiter.

Selbsthilfe

Das Bild der Selbsthilfegruppe als Treffpunkt jener, die ohne Hoffnung ihr Schicksal beklagen, ist längst überholt. Heute treffen sich dort vielmehr Menschen, die große Belastungen und Sorgen tragen, aber auch einen großen Schatz an Erfahrungen gesammelt haben und diesen mit anderen teilen können. Viele Angehörige berichten von dem befreienden Gefühl, auf Verständnis, das auf persönlicher Erfahrung beruht, getroffen zu sein. Sich selbst in den Geschichten der anderen wiederzufinden, zu erkennen, dass mehrere Menschen ähnliche Sorgen, Befürchtungen und Ängste, aber andere Strategien des Umgangs damit entwickelt haben, öffnet den Blick für neue Wege. Ebenso werden Erfahrungen mit Ärzten, Therapeuten, Medikamenten oder Einrichtungen ausgetauscht, positive wie negative. Die Meinungsvielfalt trägt zu einem vielschichtigeren Bild bei und hilft, auch nach schlechten Erfahrungen weiterhin auf Hilfe zu vertrauen. Bei ganz praktischen Problemen, wie z. B. der sozialrechtlichen, finanziellen Absicherung der Betroffenen, gibt es sowohl praktische Hilfestellungen als auch emotionale Unterstützung, bei Rückschlägen nicht gleich aufzugeben.

Oft sind die Erfahrungen in der Gruppe auch Wegbereiter, um selbst Hilfe in Anspruch zu nehmen, sei es in Form von professioneller Beratung oder auch therapeutischer Unterstützung.

Angehörigenressourcen

Jeder Mensch ist auf Ressourcen aus sozialen Netzwerken wie z. B. der Familie oder dem Freundeskreis angewiesen. Gerade bei Menschen mit psychischen Erkrankungen gilt es, diese Ressourcen zu (re-)aktivieren und das soziale Umfeld zu befähigen, auch unterstützend für den Betroffenen zu sein. Verschiedene Leitlinien zur Behandlung psychisch erkrankter Menschen sehen die Information, die Psychoedukation und die Arbeit mit Angehörigen als unverzichtbaren Teil des Behandlungsplanes vor. Zahlreiche Studien belegen, dass die Unterstützung der Angehörigen unmittelbar eine posi – tive Auswirkung auf die erkrankte Person hat, z. B. indem das Risiko einer stationären Wiederaufnahme drastisch reduziert wird und dabei die Effektstärke durchaus mit anderen therapeutischen Interventionen vergleichbar ist. Eine „Nebenwirkung“ dieses Ansatzes ist, dass damit auch die Belastung der Angehörigen deutlich gesenkt wird. Diese mögliche positive Wirksamkeit von Angehörigen im therapeutischen Prozess darf allerdings nicht dazu führen, dass Angehörige – und dies gilt im Besonderen für Kinder und Jugendliche – als Therapeutikum instrumentalisiert werden. Vielmehr sollen Angehörige jene Unterstützung finden, die sie brauchen, um dem erkrankten Familienmitglied eine förderliche Umgebung bieten zu können.

Literatur beim Verfasser