[DGPPN 2010] Psychiatrie im Nationalsozialismus – Erinnerung und Verantwortung

Psychiater und die Vertreter ihrer Verbände haben in der Zeit des Nationalsozialismus ihren ärztlichen Auftrag, die ihnen anvertrauten Menschen zu heilen und pflegen, vielfach miss – achtet und eigenständig umgedeutet. Die Psychiatrie war verführbar und hat verführt, hat geheilt und vernichtet. Sie hat sich nicht mehr dem einzelnen Menschen verpflichtet gefühlt, sondern im Namen eines angeblichen Fortschritts, den man in der Befreiung einer ganzen Gesellschaft von Fürsorgelasten in der Verbesserung der Erbanlagen sah, massenhaft Menschen misshandelt und getötet – und unliebsame Kollegen aus ihren Ämtern gedrängt“, sagte Schneider. Viel zu lange sei dieser Teil der Geschichte verdrängt worden und daher habe sich die DGPPN entschlossen, in einem Forschungsprojekt, das von einer unabhängigen wissenschaftlichen Kommission begleitet wird, die Rolle der Fachgesellschaft zwischen 1938 und 1945 aufzuarbeiten.

Opfer und Täter: Lange habe auch in der Fachgesellschaft ein Bild der Vergangenheit dominiert, wonach das geschehene Unrecht zwar anerkannt wurde, dieses aber von den politischen Instanzen zu verantworten war und der Berufsgruppe quasi aufgezwungen wurde, erklärte der Vorsitzende der Kommission, Prof. Dr. Volker Roelcke, Gießen. Die jüngere historische Forschung habe jedoch detailliert dokumentiert, dass ein großer Teil der Psychiater, darunter viele Universitätsprofessoren sowie der Vorsitzende der damaligen Fachgesellschaft, Prof. Dr. Ernst Rüdin, an der Planung, Organisation, praktischen Durchführung und Legitimation der Unrechtshandlungen beteiligt war. Drei große „Tatkomplexe“ ließen sich identifizieren:

  • der Ausschluss jüdischer und sozialis – tischer Psychiater aus der Fachgesellschaft und aus psychiatrischen Institutionen, womit diesen die Lebensgrundlage entzogen und sie in die Emigration gezwungen wurden;
  • die eugenisch bzw. rassen – hygienisch motivierte sowie an ökonomischer Effizienz und Leistungsfähigkeit des „Volkskörpers“ orientierte Gesundheits – politik. Diese führte u. a. zur Zwangs – sterilisation von über 360.000 sogenannten „Erbkranken“ und zur systema – tischen Tötung von ca. 250.000 bis 300.000 psychiatrischen Patienten, Behinderten und anderen Kranken aus sozialen Randgruppen;
  • die medizinische Forschung an biologisch oder juristisch als „minderwertig“ eingeordneten Menschen, die in erheblichem Umfang auch an Patienten in psychiatrischen Anstalten durchgeführt wurde.

Mythen und Realitäten: Durch die historische Forschung, so Roelcke weiter, konnten drei zentrale Mythen entkräftet werden: Zum einen die Annahme, dass medizinische Verbrechen das Resultat einer irrationalen, der Medizin von außen aufgezwungenen Politik gewesen seien. „Die Initiative für das Programm der eugenischen Sterilisationen, die Patiententötungen (,Euthanasie‘) und für die in – humane psychiatrische Forschung ging nicht von politischer Seite, sondern von den beteiligten Ärzten selbst aus und wurde dann vom Regime aufgegriffen und organisatorisch unterstützt.“ Die Programmatik von Eugenik, Rassenhygieneund damit verbundener medizinischer Forschung und Praxis war keine Erfindung nationalsozialistischer Ideologen, sondern hatte ihre Ursprünge im späten 19. Jahrhundert, ebenso wie die Idee, dass es möglich wäre, nach einer medizinischen Begutachtung zwischen „lebenswerten“ und „lebensunwertem“ Leben zu unterscheiden, eine Idee, die in den Krisenzeiten nach dem 1. Weltkrieg besonderen Zuspruch unter Ärzten fand. Widerlegt wurde auch die Annahme, dass es sich bei den menschenverachtenden Forschungsaktivitäten um „Pseudowissenschaften“ gehandelt habe, denn die in diesen Forschungen verfolgten Fragestellungen waren in vielen Fällen aktuell oder sogar führend in Bezug auf die internationalen Standards der Zeit.

Als Konsequenz dieser historischen Forschung, so Roelcke, „lässt sich die These formulieren, dass die Grenzüberschreitungen zwischen 1938 und 1945 nicht spezifisch für die Zeit des Nationalsozialismus waren, sondern lediglich eine extreme Manifestation von Potentialen, die in der modernen Medizin und Psychiatrie generell angelegt sind.“ Leid, Unrecht und schon gar nicht der Tod könnten ungeschehen gemacht werden, sagte Schneider. „Aber wir können lernen. Wir können gemeinsam für eine humane, am einzelnen Menschen orientierte Psychiatrie eintreten und gegen Stigmatisierung und Ausgrenzung psychisch Kranker kämpfen, im steten Gedenken an die Opfer.“

Quelle: DGPPN-Kongress, Symposium „Psychiatrie im Nationalsozialismus“ und Gedenkveranstaltung, 26. 11. 2010, Berlin