Sozialpsychiatrie heute – eine mehrdimensionale integrative Psychiatrie

Wir unterscheiden heute zwischen verschiedenen Formen der Psychiatrie wie biologische bzw. somatologische Psychiatrie, psychotherapeutische Psychiatrie, psychoanalytische Psychiatrie, anthropologische Psychiatrie, daseinsanalytische Psychiatrie, Sozialpsychiatrie, vergleichende Psychiatrie, transkulturelle Psychiatrie, Ethnopsychiatrie, Liaisonpsychiatrie etc.

Ohne Zweifel ist dem leider zu früh verstorbenen jahrzehntelangen Chefarzt der Psychosozialen Dienste Stefan Rudas (einem selbst sowohl markanten wie prominenten Vertreter der österreichischen Sozialpsychiatrie) nur zuzustimmen, wenn er betonte, er kenne nur zwei Formen der Psychiatrie: nämlich eine gute und eine schlechte – wobei er als gute eine allumfassende, integrative Psychiatrie verstand und als schlechte eine solche, die nicht das gesamte, heute zur Verfügung stehende Wissen aller psychiatrischen Teilbereiche integriert, sondern sich auf einen bzw. einige wenige Teilbereiche davon beschränkt. Unter einem solchen Blickwinkel stellt sich natürlich die Frage, ob – und wenn ja, warum – man heute überhaupt noch eine Sozialpsychiatrie braucht. Um diese Frage beantworten zu können, empfiehlt es sich vorerst abzuklären, was man heute unter Sozialpsychiatrie versteht bzw. verstehen soll und könnte. Diese Vorabklärung des Aufgabenbereichs und Stellenwerts der Sozialpsychiatrie ist insofern von großer Bedeutung, als sie in den letzten beiden Jahrzehnten doch ganz wesentliche Änderungen nicht nur hinsichtlich ihrer Forschungsschwerpunkte, sondern auch bezüglich ihrer Behandlungsziele und -methoden erfuhr.

Soziale Erklärungsmodelle und gemeindenahe Versorgung

Folgt man den Analysen von Asmus Finzen, so entwickelte sich die Sozialpsychiatrie aus der Moraltherapie, einem Behandlungskonzept, das im 18. Jahrhundert entwickelt wurde und im 19. bis ins 20. Jahrhundert in Westeuropa weit verbreitet war. Die wesentlichen Grundfesten der Moraltherapie sind der unerschütterliche Glaube in ein „rechtes Leben“ (im Sinne eines objektiv richtigen Lebens) sowie an die Wirksamkeit von bestimmten Maßnahmen, die nicht nur ein solch rechtes Leben, sondern gleichzeitig auch die Gesundung von psychisch Kranken ermöglichen. Diese Maßnahmen umfassten neben religiösen Übungen und wertschätzender individueller Pflege vor allem auch Arbeits- und Beschäftigungstherapie sowie Vergnügungen, Spiele, Musizieren und körperliche Übungen.

Von Beginn an lag der eine Schwerpunkt der Sozialpsychiatrie auf der Entwicklung sozialer Erklärungsmodelle für psychische Erkrankungen und der andere in der Entwicklung von Versorgungsstrukturen außerhalb der großen Anstalten wie der Aufbau von gemeindenahen Einrichtungen zur Behandlung von psychisch Kranken.

Als Gegenmodell zur klassischen Anstaltspsychiatrie wurden nun ambulante bzw. teilstationäre Behandlungseinrichtungen geschaffen. Solche gemeindenahen Versorgungs- und Behandlungsstrukturen sind natürlich gerade für Langzeitkranke von großer Bedeutung. Es ist demnach auch nicht verwunderlich, dass sich die Sozialpsychiatrie vor allem der chronisch Kranken und hier ins besondere derjenigen mit chronischen idiopathischen Psychosen und Suchterkrankungen annahm. Erst in der Folge wurden sozialpsychiatrische Versorgungsformen auch für andere Erkrankungen geöffnet, wie Angststörungen, Essstörungen, Zwangsstörungen, somatoforme Störungen etc. Eine besondere Ausweitung erfuhr die Sozialpsychiatrie durch die Entwicklung von Liaisonpsychiatrie – sowie von transkulturellen Behandlungseinrichtungen. Heute steht die moderne Sozialpsychiatrie im Gegensatz zur biologischen Psychiatrie und psychotherapeutisch orientierten Psychiatrie für eine mehrdimensionale integrative Psychiatrie.

Nicht nur Erkrankungen des Gehirns bzw. der Seele

Damit wird das so lange alles beherrschende Paradigma der biologischen Psychiatrie, dass psychische Erkrankungen nur Gehirnerkrankungen seien, überwunden. Ohne Zweifel ist eine psychische Erkrankung ohne Gehirn und seine Veränderungen nicht vorstellbar, das heißt aber noch keineswegs, dass die Veränderungen des Gehirns auch alles bestimmende Ursache des Krankheitsgeschehens sein müssen.

Es spricht nach den pathogenetischen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte nur sehr wenig dafür, dass ein Großteil dessen, was wir heute als psychische Erkrankungen bezeichnen, ihren letzten Ursprung in Gehirnveränderungen hat – denken wir doch nur an die ungeheuren Erfolge der Psychotraumaforschung im Zusammenhang mit den jüngsten Untersuchungen zur Plastizität des Gehirns sowie an die wenig ermutigenden Ergebnisse einer eher statisch ausgelegten Genforschung zur Pathogenese von psychischen Erkrankungen.

Natürlich ist es nicht zu leugnen, dass Gehirnveränderungen bei der Entstehung von den uns geläufigen psychopathologischen Krankheitsbildern eine große Rolle spielen, aber wenn, dann eher noch als Mittler und Gestalter denn als Verursacher, möglicherweise überhaupt nur als Begleiter.

Aber auch die verkürzte Sicht, dass psychische Krankheiten nur Erkrankungen der Seele sind – was immer auch darunter verstanden werden mag, – wie von manchen traditionsverhafteten Vertretern einer psychotherapeutisch orientierten Psychiatrie noch immer behauptet, wird durch eine integrative Sozialpsychiatrie konterkariert.

Die moderne (oder vielleicht doch richtiger: postmoderne) Sozialpsychiatrie basiert auf einem Mehrperspektivismus mit dem Hauptfokus auf dem kranken Menschen als soziales Wesen. Psychische Erkrankungen sind nicht nur Erkrankungen des Gehirns bzw. der Seele, psychische Erkrankungen sind Erkrankungen des Menschen in seiner Ganzheit, die sich in psychischen bzw. -psychopathologischen Phänomenen entäußern. Der Mensch selbst wird in seiner Ganzheit und Einzigartigkeit als vielschichtiges und facettenreiches Wesen gesehen, das mehrdimensionaler Betrachtungsweisen bedarf.

Psychiatrie von Menschen für Menschen

Dieser ganze Mensch ist immer auch soziales Wesen, er ist damit immer auch Teil unserer Gesellschaft mit ihren Lebensformen; und das natürlich auch im Krankheitsfall, selbst dann noch, wenn man versucht, ihn deswegen aus unserer Sozietät auszuschließen. Sozialpsychiatrie muss daher im Dienste der psychisch Kranken immer auch eine politische und politisierende Psychiatrie sein.

Die Sozialpsychiatrie ist als eine Psychiatrie von Menschen für Menschen nicht nur eine Antwort auf die mannigfachen Versuche, den Menschen in seine Körperteile oder psychische Anteile zu fragmentieren und auf einen „Störfall“ zu reduzieren, sondern ganz wesentlich auch politisches Votum für all jene, die als nicht nur an einer minderen Gesundheit, sondern auch an einer minderen Krankheit Leidende (wie es Robert Musil in seinem Mann ohne Eigenschaften nicht besser hätte ausdrücken können) desavouiert aus unserer gesellschaftlichen Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Trotz alledem ist aber auch eine solche Psychiatrie von Menschen für Menschen nicht gefahrlos. Das wesentliche Gefahrenmoment der heutigen Sozialpsychiatrie liegt darin, dass sie sich als Psychiatrie des ganzen Menschen wieder in Richtung einer eher dogmatischen Moraltherapie rückentwickelt, in der Therapeuten dann den Kranken vorgeben, wie man richtig zu leben hat, was „rechtes Leben“ sei. Die gerade auch in der Sozialpsychiatrie so hoch angesehene „Psychoedukation“ kann dabei zum ersten Schritt in eine problematische Richtung werden.

Das vorliegende Heft steht daher auch nicht für sozialpsychiatrische Edukation, sondern stattdessen für umfassendes Zur-Verfügung-Stellen von heutigem Wissensstand zu Ihrer kritischen Lektüre, bei der Sie meine besten Wünsche begleiten mögen.